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Zeitzeugenaussagen aus Russland

Millionen Menschen verbrachten in der Sowjetunion Jahre ihres Lebens im Lager oder in der Verbannung. Doch öffentlich durfte darüber jahrzehntelang nicht gesprochen werden. Erst seit den späten 1980er Jahren erschienen zahlreiche Erinnerungsberichte. Heute gibt es in Russland nur noch wenige Gulag-Überlebende, deren Erfahrungen in der Öffentlichkeit kaum mehr eine Rolle spielen.

Credit: Hubertus Knabe

"Unsere Essensration hing vom Arbeitsergebnis ab"

Bei eisigen Temperaturen mussten die Gulag-Häftlinge schwerste Arbeiten ausführen. Diese Szene vom Holzfällen hat der Maler Adam Schmidt festgehalten, der selber in einem Lager inhaftiert war. Wie das System der Zwangsarbeit in der Sowjetunion organisiert war, hat der jüdisch-polnische Jurist Dr. Jerzy Gliksman schon Ende der 1940er Jahre beschrieben. Sein Bericht für eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen gehört zu den frühesten Zeitzeugenbeschreibungen des Gulag.

"Obwohl die Arbeit unsere Kräfte überstieg, haben wir uns alle bis zum Äußersten angestrengt, um sie so gut wie möglich zu erledigen. Dies geschah teilweise, um den höhnischen Rat und die spöttischen Bemerkungen der Brigadiere und Aufseher zu vermeiden, vor allem aber um mehr Nahrungsmittel zu erhalten. Die Größe unserer täglichen Rationen hing nämlich direkt vom Arbeitsergebnis ab, das jeder von uns an einem bestimmten Tag erreichte. Es war Politik, alle in einem Zustand des Halbverhungerns zu halten, um einzelnen Gefangenen dann die Chance zu geben, als Belohnung für bessere Arbeitsergebnisse ihre Rationen aufzubessern. Der Hunger wurde erzeugt, um die Produktivität zu erhöhen.

Selbst die kleinste Aufgabe im Lager hatte ihre sorgfältig berechnete „Norm“. Spezielle Tabellen legten für jede mögliche Art von Arbeit fest, wieviel ein Lagerinsasse pro Tag leisten musste. Es gab Quoten für die Anzahl der Bretter, die ein Gefangener hobeln musste, für die Quadratmeter Boden, die er reinigen sollte, für die Nägel, die er einschlagen musste, oder für die Menge, die er be- oder entladen musste. Diese Normen waren sehr hoch. Selbst ein außergewöhnlich starker Arbeiter hätte große Schwierigkeiten gehabt, sie zu erfüllen. Wir, die ständig hungrigen und geschwächten Sklavenarbeiter, konnten sie unmöglich bewältigen.

Am schlimmsten waren diejenigen dran, die weniger als zehn Prozent ihrer täglichen Norm schafften. Diese galten als „otkaschiki“, also als Arbeitsverweigerer. Sie wurden in eine Strafzelle gesteckt, den "Isolator", wo sie nur etwas Wasser und 300 Gramm Brot pro Tag erhielten. Oder sie wurden vor ein Gericht gestellt und erneut verurteilt. 

Kaum glücklicher waren die Gefangenen, die nur zwischen zehn Prozent und 30 Prozent der Norm schafften. Auch sie erhielten nur 300 Gramm Brot pro Tag, zusätzlich bekamen sie aber noch etwas wässrige Suppe aus dem "Straftopf". Ich habe extrem darauf geachtet, nicht in diese Kategorie zu fallen, weil die Gefangenen, die einmal das Pech hatten – und es gab eine Menge davon – für immer verloren waren. Nach einigen Tagen des Hungerns wurden diese unglücklichen Personen schwächer und schwächer und ihre Arbeitsfähigkeit nahm immer weiter ab. Sie waren folglich nie wieder fähig, mehr zu leisten, um wieder in eine höhere Kategorie zu kommen und ein zusätzliches Stück Brot zu erhalten – ein wahrer Teufelskreis! Wir konnten sehen, wie diese Menschen vor unseren Augen zugrundegingen..."

Zum Bericht von Jerzy Gliksman geht es hier (englisch, S. 53-57).

Links

Kurzbiografie von Jerzy Gliksman (englisch)

Buch von Jerzy Gliksman "Sag es dem Westen" (englisch)

 

Nach der Diktatur. Instrumente der Aufarbeitung autoritärer Systeme im internationalen Vergleich

Ein Projekt am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg

Twitter: @afterdictatorship
Instagram: After the dictatorship

Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

"Was ich in den Lagern der Kolyma lernte"

Wachturm, Palisaden, Stacheldraht – so sahen die meisten sowjetischen Arbeitslager aus. Doch nur in der Nähe von Perm ist ein solches Lager weitgehend erhalten geblieben. Bekannt wurde der „Archipel Gulag“ vor allem durch das gleichnamige Werk des Schriftstellers Alexander Solschenizyn, der acht Jahre in Arbeitslagern verbrachte. Doch auch viele andere Autoren haben den Terror der Stalin-Zeit beschrieben. Zu den bekanntesten zählen Anna Achmatowa, Osip Mandelstam und Warlam Scharlamow. Doch keiner von ihnen hat das Ende der kommunistischen Diktatur erlebt.

Als Alexander Solschenizyn 1962 in der sowjetischen Literaturzeitschrift Nowy Mir die Novelle „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ veröffentlichte, war dies eine Sensation. Zum ersten Mal wurde in einer staatlichen Publikation – mit persönlicher Zustimmung von Parteichef Nikita Chruschtschow – der Alltag eines Lagerhäftlings geschildert. Doch Chruschtschows Nachfolger Leonid Breschnew beendete 1964 das Tauwetter. Als Solschenizyn 1970 den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, konnte er den Preis nicht selbst entgegennehmen, da er fürchten musste, anschließend nicht mehr zurückkehren zu dürfen. Ein Jahr später verübte der KGB einen Giftanschlag auf ihn. Als 1976 der erste Teil seines „Archipel Gulag“ im Westen erschien, wurde er verhaftet und ausgewiesen.

Das Hauptwerk eines anderen Schriftstellers wurde erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vollständig veröffentlicht: die „Erzählungen aus Kolyma“ von Warlam Schalamow. Der Autor gilt als bedeutendster Chronist des Gulag. Insgesamt verbrachte er 18 Jahre in sowjetischen Arbeitslagern. Als Student hatte er 1929 Lenins politisches Testament verbreitet, in dem vorgeschlagen wird, Stalin als Generalsekretär abzulösen. Die über 100 Erzählungen haben einen Umfang von 1600 Seiten und bestehen aus sechs Zyklen. Obwohl Teile davon 1971 nur im Westen erscheinen durften, versuchte Schalamow, die Konfrontation mit den sowjetischen Machthabern zu vermeiden. 1982 starb er in einer Nervenheilanstalt. Auf einer russisch-englischen Website, die dem Schriftsteller gewidmet ist, fasst er seine Lagererfahrungen in 46 Punkten zusammen.

„Was ich in den Lagern der Kolyma lernte:

1. Die außerordentliche Fragilität der menschlichen Kultur und Zivilisation. Der Mensch wurde innerhalb von drei Tagen zur Bestie – unter Schwerarbeit, Kälte, Hunger und Schlägen.

2. Die Kälte war das Hauptmittel, um die Seele zu verderben; in den zentralasiatischen Lagern müssen die Menschen länger durchgehalten haben – weil es dort wärmer war.

3. Ich habe gelernt, dass Freundschaft und Solidarität nie unter schwierigen, wirklich schweren Bedingungen entstehen, also wenn das Leben auf dem Spiel steht. Freundschaft entsteht nur unter schwierigen, aber erträglichen Bedingungen (in der Krankenstation, aber nicht in der Mine).

4. Ich habe gelernt, dass Gehässigkeit die letzte menschliche Emotion ist, die bleibt. Ein hungernder Mensch hat nur noch genug Muskelfleisch, um Gehässigkeit zu empfinden – alles andere ist ihm gleichgültig.

5. Ich lernte den Unterschied zwischen Gefängnis, das den Charakter stärkt, und Arbeitslagern, die die menschliche Seele verderben.“

Weiterlesen (englisch)

"Die Anklageschrift war völlig extrem"

In diesem Moskauer Gebäude residiert der russische Inlandsgeheimdienst FSB. Seit 1920 befand sich darin die Zentrale der sowjetischen Geheimpolizei. Im Keller der „Lubjanka“, wie das Haus genannt wird, wurden Hunderttausende Gefangene verhört und gefoltert und Tausende erschossen. Die 17-jährige Schülerin Susanna Petschuro zählte ebenfalls zu den Inhaftierten. Weil sie einem Kreis kritischer Schüler angehört hatte, wurde sie 1951 zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. In einem Video erinnert sie sich an ihre Verurteilung.

„Nach zwei Wochen verlegten sie mich ins Gefängnis Lefortowo. Da begann das richtige Gefängnisleben. Es war schrecklich, mit endlosen Nachtverhören, wochenlang ohne Schlaf. Man verliert jedes Bewusstsein, überhaupt jede Orientierung – alles ist schon vorbei, nichts bleibt mehr. Wenn sie einen durch die Korridore führten, gegen die Schnalle klopften1 und einen zur Wand drehten, eine Minute – in dieser Minute schlief man. Beim Verhör, wenn der Vernehmer meine Antwort auf eine Frage aufschrieb, schlief ich. Er brüllte mich an: 'Du hast eiserne Nerven'. 'Nun ja'. Einzelhaft, immerzu Einzelhaft… Das war die Ermittlung. Danach kam ich in die Lubjanka, dann wieder zurück...

Und dann kam die Gerichtsverhandlung. Die Anklageschrift war völlig extrem. Was da nicht alles drin stand. Die Verhandlung dauerte sieben Tage. Da saßen drei alte Leute. Jeder von uns hatte seine eigene Bewachung. Natürlich gab es weder Ankläger noch Verteidiger noch Zeugen. Die Verhandlung fand im Keller jenes Lefortowo-Gefängnisses statt. Und die Urteilsverkündung.

Nach Verkündigung der Höchststrafen2 fingen alle an zu schreien und zu weinen, besonders die Mädchen. Von hinten rief jemand: „Schreibt ein Gnadengesuch, schreibt, bittet um Begnadigung!“ Schenja drehte sich um und sagte: „Wir werden nichts schreiben, wir werden nicht um Begnadigung bitten.“ Ich weiß, dass sie kein Begnadigungsgesuch geschrieben haben. Sie haben das abgelehnt. Und die anderen … drei von uns bekamen zehn Jahre. Meine minderjährige Schwester, die in nichts involviert gewesen war, und noch zwei, Tamara Rabinowitsch, die nirgends teilgenommen hatte, und Galja Smirnowa, die praktisch auch nichts wusste. Es gab da eine bemerkenswerte Formulierung: 'Auf Grund fehlenden Straftatbestands – zehn Jahre'."

Zum Interview mit Susanna Petschuro geht es hier.

1) In sowjetischen Gefängnissen machte das Wachpersonal durch Klopfgeräusche auf sich aufmerksam, wenn es einen Gefangenen zum Verhör brachte, damit sich Inhaftierte nicht begegneten.

2) Drei Mitschüler von Susanna Petschuro wurden zum Tode verurteilt. 

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