matomo

Analysen zu Russland

Wie ein futuristischer Kommandostand wirkt der Raum, in dem das Moskauer Gulag-Museum den Terrorapparat in der Sowjetunion erklärt. Selbst Experten haben Schwierigkeiten, sich in dem verästelten und häufig umorganisierten Apparat zurechtzufinden. Doch während die stalinistische Vergangenheit Gegenstand vieler Analysen ist, gibt es zum Prozess der Aufarbeitung in Russland kaum wissenschaftliche Studien.

Credit: Hubertus Knabe

Warum die Aufarbeitung der Stalin-Zeit so schwierig ist

Einmal im Jahr wird in einem entlegenen Wald in Karelien der Opfer des „Großen Terrors“ gedacht. Hier, in Sandarmorch, wurden zwischen Oktober 1937 und Dezember 1938 fast 10.000 Erschossene verscharrt. In der russischen Öffentlichkeit spielt Stalins Terror jedoch kaum eine Rolle, viele halten den Diktator sogar für einen großen Staatsmann. In einem Essay erklärt der 2017 verstorbene Historiker Arsenij Roginskij, warum die Aufarbeitung der Vergangenheit in Russland so schwierig ist.

Lange Zeit war Roginskij das bekannteste Gesicht der Menschenrechtsorganisation Memorial. Noch zu Sowjetzeiten hatte er sie 1988 mitbegründet. Als Herausgeber einer Untergrundzeitschrift war er von 1981 bis 1985 selbst in Haft gewesen. Auch sein Vater war Gefangener in einem Gulag-Lager gewesen. In seinem 2009 erschienenen Text gibt er einen Überlick über den Stand der Aufarbeitung in Russland und analysiert die Ursachen des in Meinungsumfragen zu Tage tretenden positiven Stalin-Bildes.

Das wichtigste Hindernis für die Ausbildung einer funktionierenden Erinnerung an den Terror, so Roginskij, sei, dass die Russen das Böse nicht wie in anderen Ländern abspalten könnten. Während sich die Menschen andernorts mit den Opfern oder den Widerstandskämpfern identifizieren könnten, ließen sich Täter und Opfer in Russland nur sehr schwer voneinander trennen. Hinzu käme, dass es weder einen staatlichen Rechtsakt noch vertrauenerweckende Gerichtsurteile gegeben habe, die den Staatsterror eindeutig als Verbrechen qualifiziert hätten. Ein dritter Punkt sei, dass sich der sowjetische Terror vorwiegend gegen die eigenen Leute gerichtet hätte, was nur schwer zu begreifen sei. In Russland werde deshalb zwar an die Opfer erinnert, doch die Täter kämen im kollektiven Gedächtnis nicht vor.

Im Unterschied zu früheren Jahrzehnten prägten dabei inzwischen kaum mehr eigene Erinnerungen, sondern kollektive Vergangenheitsbilder das Bewußtsein über die Stalin-Zeit. Diese wiederum seien stark von der Geschichtspolitik der politischen Eliten geprägt, die schon in den 1990er Jahren damit begonnen hätten, sich aus der „ruhmreichen“ Vergangenheit Großrusslands zu legitimieren. Stalins Sieg über Hitler-Deutschland komme dabei ein zentraler Platz zu, was zwangsläufig dazu geführt habe, dass die Erinnerung an dessen Terror in den Hintergrund getreten sei.

Diese Faktoren bestimmten auch die praktische Erinnerungskultur in Russland. Zwar gebe es mindestens 800 Denkmäler und Gedenktafeln. Doch die Verfolgten erschienen dort wie Opfer einer Naturkatastrophe, da die Verbrechen und ihre Urheber ausgeblendet würden. Die Denkmäler gingen auch nicht auf den Zentralstaat zurück, sondern auf zivilgesellschaftliche oder lokale Initiativen und befänden sich häufig an abgelegenen Orten wie den Massengräbern der Stalin-Zeit. In den Stadtzentren trügen hingegen noch heute viele Straßen die Namen derjenigen, die den Terror ins Werk gesetzt hätten.

Ein anderer Grundpfeiler des Gedenkens seien die fast 300 regionalen Erinnerungsbücher mit den Namen von mehr als eineinhalb Millionen Opfern. Eine Datenbank, die Memorial ins Internet gestellt habe, umfasse sogar mehr als 2,7 Millionen Namen.1 Trotzdem sei damit immer noch nur ein sehr geringer Teil der Opfer erfasst. Der russische Staat habe sich aus dieser Arbeit fast vollständig herausgehalten, so dass die Erfassung der Namen höchst uneinheitlich erfolgt sei. Selbst von den über 300 Massengräbern der Erschießungsopfer seien mehr als 200 immer noch nicht gefunden worden. Weder die Gebäude, in denen der Terror geplant oder durchgeführt wurde, seien als Erinnerungsorte gekennzeichnet worden noch die von Gefangenen erbauten Kanäle, Eisenbahnen oder Fabriken.

In etwa 300 lokalen Museen, so Roginskij weiter, werde der Terror zwar angesprochen, doch meist nur im Zusammenhang mit der Industrialisierung der jeweiligen Region. Auch in den neueren Geschichtsbüchern für die Schulen komme der Stalinismus als System zwar vor, doch der Terror werde darin als historisch notwendig und alternativlos dargestellt. Das schließe Mitgefühl mit den Opfern zwar nicht aus, aber die Staatsmacht verkörpere aus dieser Perspektive etwas Höheres als Recht und Moral oder die Interessen des einzelnen. „Der Staat hat immer recht – zumindest, solange er mit seinen Feinden fertig wird“ – dieser Gedanke durchziehe die Lehrbücher von Anfang bis Ende, so der Historiker in seinem aus dem Russischen übersetzten Essay.

Zum vollständigen Text von Arsenij Roginskij geht es hier.

1) Die Datenbank von Memorial umfasst inzwischen mehr als drei Millionen Namen

Links

Website über die Lager des Gulag mit Häftlingszahlen und Biografien

Dossier der deutsch-russischen Website dekoder über Aufarbeitung in Russland

Datenbank der Menschenrechtsorganisation Memorial 

Thesen von Memorial über den Großen Terror und die russische Gegenwart

Bericht der Deutschen Welle über die Verurteilung des Historikers Jurij Dimitrijew

 

Nach der Diktatur. Instrumente der Aufarbeitung autoritärer Systeme im internationalen Vergleich

Ein Projekt am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg

Twitter: @afterdictatorship
Instagram: After the dictatorship

Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Gulag-Denkmäler in Russland

Sechs Meter hoch und dreißig Meter lang ist die „Mauer der Trauer“ in Moskau. Am 30. Oktober 2017 – dem Gedenktag für die Opfer politischer Gewalt in Russland – wurde das monumentale Denkmal im Herzen der Hauptstadt vom russischen Präsidenten Wladimir Putin eingeweiht. Eine langjährige Forderung der Aufarbeitungsorganisation Memorial ging damit in Erfüllung. Gleichwohl kritisierte deren Vertreterin Irina Scherbakowa das Denkmal als "verlogen". Ein Aufsatz aus dem Jahr 2007 analysiert die Entstehung und die Formen der Gulag-Denkmäler in Russland.

Das erste Denkmal für die Opfer der Verfolgungen in der Sowjetunion, so die Kulturwissenschaftlerin  Natalia Konradowa, wurde 1988 in Workuta errichtet – eine Industriestadt nördlich des Polarkreises, die größtenteils von Häftlingen erbaut wurde. Das Denkmal, das ursprünglich nur als Platzhalter für ein größeres Monument gedacht war, besteht aus einer Säule, auf der ein mit Stacheldraht umwundener Stein liegt. 1989 seien einige weitere Denkmäler hinzugekommen, unter anderem auf der Gefangeneninsel Solowezki.

1990, als sich der Zerfall des kommunistischen Systems beschleunigte, wurde auch vor der KGB-Zentrale in Moskau ein Gedenkstein errichtet. Auch dieser Stein sei ursprünglich als „Grundstein“ für ein größeres Denkmal gedacht gewesen und eher zufällig dorthin gekommen. Anfangs befand sich der Stein direkt neben dem Denkmal für Feliks Dzierżyński, dem Begründer der sowjetischen Geheimpolizei, das jedoch bald darauf abgetragen und verlegt wurde. Die Idee, zunächst nur einen unbehauenen Felsen aufzustellen, fand in dieser Zeit auch noch in anderen Orten Anwendung, etwa in Archangelsk, in Sankt Petersburg oder im sibirischen Barnaul.

Die Anfänge des Opfergedenkens in Russland waren der Autorin zufolge meist improvisiert. Stets seien sie von Aufarbeitungsorganisationen und lokalen Behörden ausgegangen. Die Mehrzahl der Denkmäler sei Anfang der 1990er Jahre eingeweiht worden. Am Ende des Jahrzehnts sei das Bemühen um ein öffentliches Gedenken wieder abgeebbt. Zahlreiche Denkmäler seien auch von Vertretern der unter Stalin verfolgten Nationalitäten, vor allem aus Polen und den baltischen Staaten, errichtet worden.

Dort, wo man nicht nur einen Stein aufstellen wollte, hätten sich die Denkmäler anfangs häufig an den in Russland weit verbreiteten Kriegsdenkmälern orientiert. Besonders gut sei dies bei einem Denkmal im Dorf Abez' in der Republik Komi aus dem Jahr 1989 zu erkennen, wo die Form einer militärischen Stele als Basis für einen Kranz aus Stacheldraht diene. Noch offensichtlicher sei die Nähe zur Formensprache der Kriegerdenkmäler bei einer Gedenkstätte, die 1997 in Chanty-Mansijsk errichtet wurde. Eine rote Wand trage dort die Inschrift „Den Opfern der Repressionen", eingerahmt von den Daten „1937-1942". Auf den Seitenwänden seien Namenslisten der Getöteten und eine Schale mit einer Flamme zu sehen. Einziger Unterschied zu einem klassischen Kriegerdenkmal sei ein großes Kreuz, das die Stelle der sonst üblichen Soldatenskulptur einnehme.

Kreuze dienten auch anderswo häufig als Gestaltungselement. Das könne ein gewöhnliches Grabkreuz sein wie bei einem Denkmal, das im Dorf Ust'-Nera in der Republik Jakutien errichtet worden sei. Häufiger unterschieden sich diese Denkmäler jedoch von traditionellen Friedhofskreuzen, so wie im Dorf Abez', wo ein Kreuz durch Aussparungen in einer metallenen „Flamme" gebildet werde. Im Dorf Jagodnoe in der Nähe von Magadan sei ein Kreuz errichtet worden, das zwei mit Handschellen gefesselten Händen entwachse. Solche verfremdeten Kreuze gebe es auch anderswo. Heute ist die christliche Ikonographie allerdings durch entsprechende Aktivitäten der russisch-orthodoxen Kirche an vielen Erinnerungsorten dominant geworden.

Ein häufiges Gestaltungselement sei auch die Darstellung einer Wand oder eines Steines, durch die ein Riss oder Bruch geht. Diese Symbolik fände auch bei neueren Denkmälern für gefallene Soldaten der russischen Armee Verwendung. Eine Besonderheit bei Denkmälern für die Opfer der stalinistischen Verfolgungen sei hingegen das Motiv einer Aussparung, meist in Form eines Kreuzes oder eines menschlichen Körpers, wie sie auch bei der „Mauer der Trauer“ in Moskau zu finden ist. Diese Leerstelle sei eine Anspielung auf die frühere Praxis, verhaftete Familienmitglieder aus den Fotos der privaten Fotoalben herauszuschneiden oder zu schwärzen, um im Falle einer Durchsuchung nicht als „Volksfeind" zu gelten.

Zum Abschluss ihres mit Schwarz-Weiß-Fotografien versehenen Beitrags erinnert die Autorin an die bei dessen Erscheinen noch uneingelöste Forderung nach einer zentralen Gedenkstätte. Sie sieht darin ein Symbol für eine Neubewertung der russischen Geschichte. Sie verweist in diesem Zusammenhang noch auf ein anderes Denkmal in Moskau, das aus steinernen Köpfen besteht, die hinter einem Metallgitter in einer Betonwand eingesperrt sind. Dieses wenig bekannte Denkmal verliert jedoch nach Meinung der Autorin seine Schärfe, weil es sich nicht im öffentlichen Raum befinde, sondern in einem Moskauer Skulpturenpark – neben Helden aus Kinderbüchern, Kopien von Kriegsdenkmälern und eben jenem Dzierżyński-Denkmal, das 1991 aus der Mitte der Stadt entfernt wurde.

Den vollständigen Aufsatz finden Sie hier (beschränkter Zugang).

TYPO3-Umsetzung & TYPO3-Webdesign: NetShot