Dokumente über den kommunistischen Terror werden – wie in diesem Museum auf den Solowezki-Inseln – in Russland immer wieder gezeigt. Doch viele Unterlagen hält der Inlandsgeheimdienst FSB bis heute unter Verschluss. Nur in den frühen 1990er Jahren hatten Historiker einen relativ guten Aktenzugang. Dennoch haben die Aktivisten von Memorial zahlreiche Dokumente zusammengetragen. Andere finden sich in den KGB-Archiven der baltischen Staaten.
Credit: Hubertus Knabe
Vom Alltag der Häftlinge im Gulag gibt es kaum Fotografien. Stattdessen haben Künstler versucht, die harten Lebensbedingungen in Bildern festzuhalten. Dieses Wandgemälde von Adam Schmidt befindet sich im Keller der evangelischen Sankt-Petri-Kirche in Sankt Petersburg. Zu Sowjetzeiten diente sie als Lager und als Schwimmbad. Doch während die Kirche nach dem Ende des Kommunismus saniert wurde, erhalten die Gulag-Opfer kaum finanzielle Unterstützung. Schuld daran ist das russische Rehabilitierungsgesetz.
Nur ein einziges Mal, so lautet die Kritik der Menschenrechtsorganisation Memorial, hat der russische Gesetzgeber den Terror der Stalin-Zeit unmissverständlich verurteilt – im Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repression vom 18. Oktober 1991. In dessen Präambel heißt es: „Während der Jahre der Sowjetmacht fielen Millionen von Menschen der Willkür des totalitären Staates zum Opfer, wurden wegen politischer und religiöser Überzeugungen aus sozialen, nationalen und anderen Gründen unterdrückt. Die Bundesversammlung der Russischen Föderation verurteilt den immerwährenden Terror und die Massenverfolgungen ihres Volkes als unvereinbar mit der Idee von Recht und Gerechtigkeit und drückt den Opfern ungerechtfertigter Repressionen, ihren Angehörigen und Freunden ihr tiefes Mitgefühl aus und erklärt den konsequenten Willen, wirkliche Garantien der Legalität und der Menschenrechte zu erreichen.“
Das Rehabilitierungsgesetz wurde noch vor der Auflösung der Sowjetunion verabschiedet und später von der Russische Föderation übernommen. Anfangs war es nur für sowjetische Staatsbürger gedacht. Doch nach einer gemeinsamen Erklärung des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl und des russischen Präsidenten Boris Jelzin über die Rehabilitierung unschuldig Verfolgter wurde es 1992 auf Ausländer ausgeweitet. Auch danach erfolgten noch mehrfach Änderungen des Gesetzes.
Artikel 1 liefert eine Definition der politischen Repression. Das Gesetz versteht darunter politisch motivierte Zwangsmaßnahmen des sowjetischen Staates in Form der Tötung, des Freiheitsentzugs, der Ausweisung, der Verbannung, der Zwangsarbeit oder anderer Freiheitsbeschränkungen, die mit der sozialen Gefährlichkeit einer Person begründet wurden. Nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch Kinder, die das Schicksal ihrer Eltern teilen mussten, haben Anspruch auf Rehabilitierung. Ehepartner, Kinder und Eltern von Erschossenen gelten ebenfalls als Opfer politischer Repression.
In weiteren Artikeln wird diese Definition konkretisiert. Rehabilitiert werden Personen, die wegen angeblicher Verbrechen gegen den Staat verurteilt wurden oder in anderer Weise Opfer von Repressionen wurden. Unabhängig von der konkreten Begründung gilt dies in allen Fällen antisowjetischer Propaganda oder Verleumdung des sowjetischen Staates, bei angeblichen Verstößen gegen die Trennung von Kirche und Staat sowie bei einer Flucht aus Haftanstalten oder Verbannungsorten. Nicht rehabilitiert werden hingegen Personen, bei denen Beweise vorliegen, dass sie sich der Spionage, terroristischer Anschläge, Gewaltakte während des Krieges, Kriegsverbrechen oder anderer Gewalttaten schuldig gemacht haben. Da die sowjetische Geheimpolizei derartige „Beweise“ oft selbst fabrizierte, fällt den Behörden bei diesen Delikten ein erheblicher Ermessensspielraum zu.
Über die Rehabilitierung einer Person entscheiden die Staatsanwaltschaften, Innenbehörden oder die Rechtsnachfolger der für die Maßnahme verantwortlichen Institution. Sie haben dafür höchstens drei Monate Zeit. Bei Strafsachen stützen sie sich dabei auf die Unterlagen des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes. Da nur Rehabilitierte diese einsehen dürfen, können Betroffene bei einer Ablehnung ihres Antrags den darin erhobenen Vorwürfen allerdings nur schwer entgegentreten. Ihnen bleibt dann nur, ein Gericht anzurufen. Ziel des gesamten Verfahrens ist die Erlangung eines Rehabilitierungsbescheides, in manchen Fällen wird das Strafmaß aber auch nur reduziert.
Eine Wiedergutmachung erfolgt nur in sehr beschränktem Maße. Für jeden Monat Freiheitsentzug zahlt der russische Staat den Rehabilitierten eine Entschädigung in Höhe von 75 Rubel (Februar 2021: 84 Cent). Die Höchstsumme beträgt 10.000 Rubel (112,49 Euro). Konfisziertes Eigentum ist an rehabilitierte Personen zurückzugeben oder zu ersetzen – allerdings nicht, wenn es offiziell verstaatlicht wurde. Ist eine Rückgabe nicht möglich, erhalten die Betroffenen maximal 10.000 Rubel (112,49 Euro) an Entschädigung. Verbannte dürfen zudem an ihren früheren Wohnsitz zurückkehren, wo sie mit Wohnraum versorgt werden müssen.
Die übrigen Verpflichtungen des Staates sind eher symbolischer Natur. Rehabilitierte haben das Recht, aberkannte militärische Ränge, staatliche Auszeichnungen und die russische Staatsangehörigkeit zurückzuerhalten. Darüber hinaus muss der Staat die in den Akten enthaltenen Manuskripte, Fotos und anderen persönlichen Unterlagen herausgeben. Schließlich müssen die Behörden mitteilen, wann, wo und wie ein Opfer der Repression verstorben ist. Regelmäßige Zahlungen wie in anderen Staaten gibt es in Russland nicht – außer sogenannte soziale Unterstützungsmaßnahmen, zu denen zum Beispiel das Recht gehört, sich bei einer Schlange nicht anstellen zu müssen.
Eine Vorschrift des Gesetzes ist in Russland praktisch nie zur Anwendung gekommen: Die Verpflichtung in Artikel 18, die für die Repressalien Verantwortlichen zu bestrafen und ihre Namen in der Presse zu veröffentlichen.
Zum Wortlaut des Gesetzes über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen geht es hier.
Datenbanken zu Opfern und Tätern politischer Verfolgung in der Sowjetunion (englisch)
Recherchedatenbank der Menschenrechtsorganisation Memorial (russisch)
KGB-Archiv im Lettischen Nationalarchiv (lettisch)
Spezialarchiv mit den Unterlagen des KGB in Litauen 1940-1991 (englisch)
Dokumentation und Wegweiser für die Rehabilitierung verfolgter Deutscher in Russland
100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte (1917-1991)
Nach der Diktatur. Instrumente der Aufarbeitung autoritärer Systeme im internationalen Vergleich
Ein Projekt am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg
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