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Erinnerungsorte in Russland

Die Zellentüren im Moskauer Gulag-Museum wurden aus ganz Russland zusammengetragen. Die Zahl der früheren Lager und Gefängnisse geht in die Tausende. Obwohl die kommunistischen Verbrechen in der Öffentlichkeit selten Thema sind, gibt es in dem Riesenreich inzwischen zahlreiche Gedenkorte. Viele sind der Menschenrechtsorganisation Memorial zu verdanken.

Credit: Hubertus Knabe

Gulag-Museum Moskau

Die riesigen Lettern am Eingang des Moskauer Gulag-Museums stehen für eines der größten Lagersysteme der Welt: Die sowjetische Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien (GULag) betrieb fast 500 Lagerkomplexe mit Tausenden von Einzellagern. Rund 18 Millionen Menschen waren darin inhaftiert, mindestens 1,6 Millionen Gefangene starben. Das von der Stadt Moskau finanzierte Museum erzählt ihre Geschichte, seit 2018 in einer ambitionierten zweisprachigen Dauerausstellung. 

Der „Archipel Gulag“, wie der russische Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn das über das ganze Land verstreute Lagersystem nannte, wurde durch dessen gleichnamiges Buch weltbekannt. Wie viele Menschen darin inhaftiert waren und wie viele von diesen ums Leben kamen, kann allerdings bis heute niemand genau sagen. Schätzungen beziffern die Zahl der Toten auf bis zu sechs Millionen. Das Gulag-Museum geht von über zwei Millionen Menschen aus, die im Gulag nach offiziellen Statistiken an Hunger oder Krankheiten starben.

Für Stalin waren die Arbeitslager ein zentrales Element des Terrors und der Herrschaftssicherung. Um den Gulag zu verwalten, waren zuletzt fast 450.000 Menschen erforderlich, davon über 230.000 zur Bewachung. Daneben gab es in den 1940er und 1950er Jahren noch ein zweites Lagersystem mit weiteren vier bis sechs Millionen Zwangsarbeitern, das von der Hauptverwaltung für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten (GUPWI) verwaltet wurde. Insgesamt mussten in der Sowjetunion rund 30 Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten.

Die Lager waren aber auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, vor allem bei Großbaustellen und für die Erschließung von Rohstoffvorkommen in unwirtlichen Regionen. Diamanten, Platin und Uran wurden zum Beispiel Anfang der 1950er Jahre ausschließlich von Gefangenen gefördert, Holz und Kohle etwa zur Hälfte. Auch zahlreiche Großprojekte wie der Weißmeer-Kanal oder das erste Atomkraftwerk bei Tscheljabinsk waren das Werk Zehntausender Häftlinge. Mehrere russische Eisenbahnlinien, Straßen und sogar ganze Städte wie Magadan oder Norilsk entstanden im wahrsten Sinne des Wortes auf menschlichen Knochen.

Das Staatliche Museum für die Geschichte des Gulag widmet sich diesem Lagersystem in einer ambitionierten Ausstellung. Der ehemalige Gulag-Häftling, Historiker und Stalin-Biograf Anton Antonow-Owsejenko hatte das Museum 2001 gegründet und 2004 eröffnet. 2012 übernahm sein Stellvertreter Roman Romanow die Leitung. Drei Jahre später zog das Museum in ein historisches Gebäude, etwa drei Kilometer vom Roten Platz entfernt. Das vierstöckige Haus wurde dazu vollkommen umgebaut. Seit 2018 ist darin eine neue zweisprachige Dauerausstellung (russisch und englisch) zu sehen, die auch über einen mehrsprachigen Audioguide verfügt. Träger des Museums ist die Kulturabteilung der Stadt Moskau.

Zu Beginn der Ausstellung symbolisieren 16 Türen aus Gefängnissen und anderen staatlichen Institutionen die einst streng geheime Welt der Repression. Anschließend werden die frühen Verfolgungen nach der Machtergreifung der Bolschewiki beschrieben. Mit einer Art Spinnennetz werden Bezüge zwischen ihren ideologischen Vorstellungen und ihrer politischen Praxis hergestellt.

Die Geschichte des Gulag bildet den Hauptteil der Ausstellung. Sie erzählt von den Anfängen der „Umerziehung durch Arbeit“, von den verschiedenen Wellen der Repression und vom System der außergerichtlichen Verurteilungen. Mit vielen Objekten wird das sowjetische System der Zwangsarbeit veranschaulicht. Informationen zur hohen Sterblichkeit oder zum Schicksal inhaftierter Kinder ergänzen die Darstellung. Exemplarisch werden auch immer wieder einzelne Häftlinge vorgestellt. An einer Stelle werden die Namen von 3,5 Millionen Gulag-Häftlingen vorgelesen, was jedes Mal mehr als zwei Jahre in Anspruch nimmt. Auch der heutige Zustand einiger Lager wird gezeigt. Die Rolle und Sichtweise der Verantwortlichen sowie die Kontinuitäten im russischen Staats- und Sicherheitsapparat sind dagegen kein Thema.

Das Museum unterhält auch ein Dokumentationszentrum mit einer Datenbank über alle sowjetischen Arbeitslager. Auch Videointerviews mit Gulag-Überlebenden, Bewachern und Angehörigen werden hier gesammelt. Das Museum verfügt zudem über einen großen Bestand an historischen Objekten und Erinnerungsstücken. Für den Einsatz an Schulen wurde eine kleine mobile Ausstellung mit verschiedenen Objekten entwickelt, die, wenn man sie in die Hand nimmt, auf einem Bildschirm von einem Zeitzeugen erläutert werden. Darüber hinaus führt das Museum regelmäßig Expeditionen in frühere Lagerstandorte durch und hält Kontakt zu lokalen Erinnerungsinitiativen. 

Mit der Schaffung des Museums wurde eine langjährige Forderung der Menschenrechtsorganisation Memorial erfüllt. Manche sehen darin aber auch den Versuch, die Aufarbeitung des Stalinismus zu verstaatlichen und den zivilgesellschaftlichen Initiativen das Wasser abzugraben. 

Links

Website des Staatlichen Museums für die Geschichte des Gulag (englisch)

Virtuelles Gulag-Museum der Menschenrechtsorganisation Memorial

Website der Menschenrechtsorganisation Memorial (teilweise englisch)

Website von Memorial Deutschland

 

Nach der Diktatur. Instrumente der Aufarbeitung autoritärer Systeme im internationalen Vergleich

Ein Projekt am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg

Twitter: @afterdictatorship
Instagram: After the dictatorship

Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Gedenkfriedhof Lewaschowo

Eine beklemmende Stille liegt über dem Fichtenwald von Lewaschowo. Hier, am Stadtrand von Sankt Petersburg, liegen die sterblichen Überreste von bis zu 45.000 hingerichteten Menschen. Sie wurden von der sowjetischen Geheimpolizei erschossen und in namenlosen Massengräbern verscharrt. Mitglieder der Menschenrechtsorganisation Memorial entdeckten 1989 das vom KGB bewachte Gräberfeld und sorgten dafür, dass es zum Gedenkfriedhof erklärt wurde. Die Bäume dienen vielen Angehörigen als Grabstein.  

Die sowjetische Geheimpolizei riegelte das Gelände nahe der Bahnstation Lewaschowo im Sommer 1937 ab, um es als Massengrab zu nutzen. Innerhalb weniger Monate wurden hier rund 24.000 Tote verscharrt. Die meisten waren im Keller des Volkskommissariates für innere Angelegenheiten (NKWD) in Leningrad (heute: Sankt Petersburg) erschossen worden.  

Schätzungen zufolge wurden auf dem Gelände bis zu 45.000 Leichen vergraben. Die genaue Zahl ist nicht bekannt, da die Namen der Toten bei ihrer Bestattung nicht erfasst wurden. Historiker gehen allerdings davon aus, dass ein großer Teil der vom Leningrader NKWD hingerichteten Personen hier ihre letzte Ruhestätte fand. Durch die Exekutionslisten sind Rückschlüsse möglich, wer hier höchstwahrscheinlich begraben liegt.

Zu den Opfern zählen nicht nur eine Reihe prominenter russischer Wissenschaftler und Intellektueller wie der Physiker Matvei Bronstein oder der Dichter Boris Kornilow. Im Zuge der sogenannten nationalen Operationen wurden auch zahlreiche Angehörige nicht-russischer Nationalitäten erschossen. Unter ihnen befanden sich auch über zwei Dutzend deutsche Kommunisten, die in Leningrad wohnten. Auch die Mitglieder der bolschewistischen Parteiführung, die ab 1949 verhaftet, gefoltert und hingerichtet wurden, dürften hier zum großen Teil bestattet sein. Die letzten Leichen wurden vermutlich 1954 hierhin verbracht.

1965 gab das Leningrader Komitee für Staatssicherheit (KGB) die als Militärobjekt getarnte Grabstätte auf. Sie wurde jedoch weiterhin streng bewacht. Der KGB erneuerte auch die drei Meter hohe Umzäunung, füllte die eingesunkenen Gräber mit Sand auf und bepflanzte sie mit Bäumen. Aufgrund von Zeugenaussagen konnten Mitglieder von Memorial das Gräberfeld 1989 identifizieren. Bei den daraufhin eingeleiteten Grabungen wurden in der Mitte und am nördlichen Ende des Geländes zahlreiche Massengräber entdeckt. Ähnliche geheime Grabfelder wurden auch am Stadtrand von Moskau (Butowo-Poligon und Kommunarka) sowie im nordrussischen Karelien (Sandarmorch und Krasny Bor) gefunden.

Die Stadt Leningrad erklärte das Gelände bei Lewaschowo 1989 zum Gedenkfriedhof für die Opfer politischer Repression. Der KGB übereignete es daraufhin der Stadt und eine Gruppe von Architekten erarbeitete ein Konzept für die Umgestaltung. Zwischen den Bäumen wurden mehrere Wege angelegt und am Eingang eine Orientierungskarte und eine Kirchenglocke aufgestellt. Im ehemaligen Blockhaus der Bewacher ist eine einfache Ausstellung zu sehen. An der Straße hat die russisch-orthodoxe Kirche in jüngster Zeit eine hölzerne Kapelle errichtet.

Angehörige haben den Wald Schritt für Schritt in einen Friedhof umgewandelt. An zahlreichen Bäumen hängen kleine emaillierte Bilder der hier Begrabenen. Auch Kreuze, Grabsteine und ganze Gedenkanlagen wurden zwischen den Fichten errichtet. Mit einem schwarzen Grabstein wird auch die Berliner Kommunistin Anna Tieke gewürdigt. Sie war 1931 in die Sowjetunion emigriert und wurde 1938 zusammen mit ihrem  Sohn Rudolf im Alter von 40 Jahren erschossen.

Gefangeneninsel Solowki

Elegant recken sich die weißen Zwiebeltürme hinter der dicken Verteidigungsmauer aus Feldsteinen in die Höhe. Auf den ersten Blick würde niemand vermuten, dass hier, in einem jahrhundertealten Kloster auf einer Insel im Weißen Meer, die Ursprünge des sowjetischen Gulags liegen. Ausgerechnet der nördlichste Vorposten der russisch-orthodoxen Kirche diente den Bolschewiki dazu, um ihr erstes Arbeitslager einzurichten: das Solowezker Lager zur besonderen Verwendung (SLON).

Die Solowezki-Inseln, oft zärtlich “Solowki” genannt, kennt fast jeder in Russland. Das 600 Jahre alte Männerkloster, das sich dort befindet, ist nämlich auf dem 500-Rubel-Schein abgebildet. Für viele ist das entlegene Eiland rund 160 Kilometer südlich vom Polarkreis ein Ort religiöser Einkehr, für andere jedoch ein Symbol für die Brutalität des Kommunismus.

Die abgelegene Lage war vermutlich der Grund, warum das Kloster bereits seit dem 16. Jahrhundert als staatliches Gefängnis diente. Nach der Machtergreifung der Bolschewiki wurde es zunächst in eine Staatsfarm (Sowchose) umgewandelt und 1923 der Geheimpolizei unterstellt. Die sowjetische Regierung beschloss damals, auf der Insel ein riesiges Arbeitslager einzurichten. Vor allem aus Gefängnissen in Moskau und Petrograd (heute: Sankt Petersburg) wurden Tausende von Häftlingen hierhin verschifft. Die Quarantänestation für die Neuankömmlinge befand sich in der Dreifaltigkeits-Kathedrale, im Refektorium wurden die “negativen Elemente” untergebracht. Am Ende gab es sechs Sträflingsdivisionen mit bis zu 50.000 Häftlingen.

Zu Beginn kamen auf die Gefangeneninsel vor allem “Ehemalige” wie die Bolschewiki die Elite des alten Russlands nannten. Zu den Inhaftierten gehörten zum Beispiel mehr als 80 Metropoliten, Bischöfe und Erzbischöfe sowie über 400 Priester. Hinzu kamen zahlreiche Adlige, Offiziere, Wissenschaftler und Künstler, die hier durch Arbeit "umerzogen" werden sollten. Der Schriftsteller Alexander Solschenizyn nannte das Lager die “Mutter des Gulag”, weil hier das sowjetische System der Zwangsarbeit zum ersten Mal in großem Stil ausprobiert wurde.

Als Erfinder der sozialistischen Sklavenarbeit gilt ein Häftling: Naftali Frenkel, der in der “Gefangenenselbstverwaltung” Karriere machte und später führende Positionen in der Gulag-Administration bekleidete. Er hatte die Idee, die Höhe der Essensration an die geleistete Arbeit zu koppeln. In völlig unzureichender Kleidung wurden die Häftlinge selbst bei eisiger Kälte zum Holzfällen getrieben. Wenn ein Gefangener gegen die strengen Vorschriften verstieß, folgten drakonische Strafmaßnahmen: Im Winter wurde er in Unterwäsche in eine eisige Strafzelle gesteckt, im Sommer gefesselt den Mückenschwärmen ausgesetzt oder auf dem Sekirnaja-Berg eine tiefe Treppe herunter gestoßen. Tausende kamen auf diese Weise ums Leben, genaue Zahlen sind nicht überliefert.

Als im Westen die ersten Berichte geflüchteter Gefangener erschienen, schickte die Regierung den Schriftsteller Maxim Gorki 1929 auf die Insel. In einem Essay begeisterte er sich anschließend für das Lagerleben und die Methoden der sozialistischen Umerziehung. Sechs Wochen zuvor waren dagegen bei einer Inspektion so katastrophale Zustände festgestellt worden, dass ein Drittel der Offiziere der Lagerverwaltung hingerichtet wurde.

1931 wurde ein Großteil der Gefangenen für den Bau des Weißmeerkanals abgezogen. Bei dem Projekt kamen rund 170.000 Häftlinge zum Einsatz, von denen mindestens 25.000 starben. 1937 wurden dann im Zuge des "Großen Terrors" knapp 2000 Gefangene auf der Insel zur Erschießung selektiert. Anschließend wurde das Arbeitslager geschlossen, weil die natürlichen Ressourcen weitgeend erschöpft waren. Eine Zeit lang diente das Kloster noch als Sondergefängnis, bis die Nordmeerflotte es 1939 übernahm.

Über 50 Jahre später beschloss die russisch-orthodoxe Kirche, das Kloster wiederherzustellen. 1992 kehrten die ersten Mönche zurück. Auf Antrag Russlands erklärte die UNSECO das Ensemble zum Weltkulturerbe. Zehn Jahre später stattete Präsident Waldimir Putin, zusammen mit dem damaligen Patriarchen Alexej II., der einstigen Gefangeneninsel einen feierlichen Besuch ab.

Vom alten Lager ist heute kaum mehr etwas zu erkennen. Das Kloster wurde aufwändig restauriert. Auch die Einsiedelei auf dem Sekirnaja-Berg, in der sich die Strafzelle befand und an dessen Abhang die sterblichen Überreste von 86 Hingerichteten gefunden wurden, erhebt sich wieder in alter Pracht. Nur die Gefangenenbaracken neben dem Kloster, in denen sich heute heruntergekommene Wohnungen, ein Laden und ein Museum befinden, sind fast unverändert erhalten geblieben.

Das kleine staatliche Museum beschreibt die Geschichte des Lagers mit vielen Fotos und Dokumenten. Das Gegenstück dazu bildet eine Ausstellung im Kloster, in der die russisch-orthodoxe Kirche vor allem die christlichen Märtyrer würdigt. Die jährliche Gedenkfeier im August findet jedoch vor einem großen Feldstein zwischen den Baracken statt, den Mitglieder von Memorial 1989 hierhin bringen ließen. Ein Denkmal für die Gulag-Opfer auf dem Klostergelände wollte die Kirche nicht.

Gedenkstätte Perm 36

Wie ein Hoffnungsschimmer leuchtet das Sonnenlicht am Ende des Zellenganges im ehemaligen Lager Perm 36. Mitglieder der Menschenrechtsorganisation Memorial entdeckten 1988 das leer stehende Gefängnis und machten daraus ein Museum. Doch 2014 wurden sie unter einem Vorwand vertrieben. Inzwischen wird die Gedenkstätte von der Regionalregierung betrieben. Die Geschichte des auch international bekannten Erinnerungsortes zeigt, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit in Russland Grenzen hat.

Als „Tor nach Sibirien“ wurde die Industriestadt Perm einst bezeichnet – gelegen im Vorland des Ural, weit weg von den Machthabern in Moskau oder Sankt Petersburg. Die geografische Lage war einer der Gründe, warum die östlichste Millionenstadt Europas nach dem Ende des Kommunismus zu einem Zentrum liberaler Kultur wurde. Damals, in den 2000er Jahren, unterstützten die örtlichen Politiker auch eine Initiative von Bürgern, aus einem ehemaligen sowjetischen Straflager eine Gedenkstätte zu machen.

Entstanden ist das Lager 1943, um mit Hilfe von Häftlingen die umliegenden Wälder zu roden. Drei Jahre später zog es an seinen heutigen Standort, etwa 120 Kilometer nordöstlich von Perm (damals: Molotow). Das Lager erhielt die Bezeichnung ITK-6, die Abkürzung für Arbeitsbesserungskolonie Nr. 6. Aufgrund der günstigen Lage an einem Fluss wurde es zu einem Holzbearbeitungsbetrieb ausgebaut, unter anderem durch ein eigenes Sägewerk. Wegen seiner technischen Ausstattung wurde es nach Stalins Tod 1953 nicht geschlossen, sondern zum Lager für „besondere Zwecke“ erklärt – dem einzigen in der Sowjetunion.

Zu den Insassen zählten jetzt vor allem inhaftierte Funktionäre der sowjetischen Sicherheitsorgane, die getrennt von anderen Häftlingen verwahrt werden sollten. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden dazu verstärkt, unter anderem durch neue Alarm- und Signalsysteme. Ab Anfang der 1970er Jahre wurden hier dann Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten gefangen gehalten, die täglich zehn Stunden Zwangsarbeit leisten mussten. In dieser Zeit erhielt das Lager die Tarnbezeichnung „VS-389/36“, in Oppositionskreisen abgekürzt als „Perm 36“.

In einer etwas abgelegenen Scheune wurde Ende der 1970er Jahre ein neuer Trakt geschaffen. Hier herrschten noch strengere Haftbedingungen als im Hauptlager – das sogenannte Sonderregime. Die insgesamt 56 Gefangenen blieben ununterbrochen in ihren Zellen eingesperrt, denn sie galten als „besonders gefährliche Staatsverbrecher“, weil sie zum zweiten oder dritten Mal wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ verurteilt worden waren. Sieben Häftlinge – darunter der ukrainische Dichter und Menschenrechtler Wassyl Stus – starben hier und wurden auf dem Lagerfriedhof begraben. Das Gefängnis war das einzige in der Sowjetunion, in dem ausschließlich politische Häftlinge inhaftiert waren.

Zu den Gefangenen gehörten zum Beispiel mehrere Mitglieder der Moskauer Helsinki-Gruppe und der sowjetischen Sektion von Amnesty International. Auch Vertreter der Kiewer Helsinki-Gruppe und der baltischen Unabhängigkeitsbewegungen kamen in das Hochsicherheitsgefängnis. Zu den bekanntesten Häftlingen zählt Sergej Kowaljow, der 1975 zu sieben Jahren Arbeitslager verurteilt worden war und Anfang der 1990er Jahre Vorsitzender der Regierungskommission für Menschenrechte wurde. Prominent sind auch die ehemaligen Dissidenten Juri Orlow und Natan Scharanski, die 1978 zu sieben und 13 Jahren Arbeitslager verurteilt worden waren. Beide waren allerdings in einem Nachbarlager inhaftiert: in Perm 35, das bis heute existiert.

1987 wurde das Lager geschlossen und vorübergehend als Heim für psychisch Kranke genutzt. Die Sicherheitsanlagen wurden entfernt und einiges umgebaut. Mitglieder der Menschenrechtsorganisation Memorial entdeckten kurz darauf das teilweise leerstehende Lager. Sie gründeten einen Verein, der darin 1995 ein Museum eröffnete: die Gedenkstätte für die Geschichte politischer Repressionen "Perm-36“. Freiwillige bauten einen Teil der zerstörten Einrichtungen wieder auf und stoppten den Verfall.

Perm 36 ist das einzige Lager des Archipel Gulag, das zu großen Teilen erhalten geblieben ist. Viele Gebäude stammen noch aus der Stalin-Ära, darunter eine Baracke für 250 Häftlinge, die Krankenstation, das Toilettenhaus und der sogenannte Isolator – wie in der Sowjetunion die Strafzellen genannt wurden. Erhalten geblieben sind auch das 1972 errichtete Küchengebäude, ein Verwaltungsgebäude sowie ein Teil der Werkstätten und technischen Versorgungseinrichtungen. Einige Gebäude dienen inzwischen Ausstellungszwecken sowie der Museumsverwaltung. 2007 wurde auch das frühere Sondergefängnis für Besucher zugänglich gemacht. Jeden Sommer fand in der Gedenkstätte das Kulturfestival „Pilorama“ (Sägewerk) mit Tausenden von Teilnehmern statt.

Nachdem 2012 die Regionalregierung ausgewechselt wurde, erhielt der Verein plötzlich keine Fördergelder mehr. Auch das Festival konnte nicht mehr stattfinden. Die Gedenkstätte nahm deshalb das Angebot an, in staatliche Trägerschaft zu kommen. Doch weil die Zuschüsse nicht ausreichten, die Stromrechnungen zu bezahlen, wurde das Museum 2014 von der Energieversorgung abgetrennt. Die Gedenkstätte musste vorübergehend geschlossen werden. Wenig später entließ die Regionalregierung die Gründungsdirektorin Tatjana Kursina und ersetzte sie durch eine Mitarbeiterin der Kulturabteilung. Der Verein musste sich zudem als „ausländischer Agent“ registrieren lassen und wurde mit Gerichtsverfahren überzogen. Nach vergeblichen Verhandlungen über einen gemeinsamen Betrieb des Museums löste sich der Verein 2016 schließlich auf.

Die staatliche Übernahme des Museums war von heftigen politischen Auseinandersetzungen begleitet. Ehemalige Wärter und konservative politische Kräfte warfen dem Verein in den Medien „Geschichtsfälschung“ vor. Dieser erklärte seinerseits, die neue Leitung würde die Verfolgungen in der Sowjetunion verharmlosen. Tatsächlich wurde der Raum mit den Biographien ehemaliger Dissidenten geschlossen. Stattdessen hoben neue Schautafeln den Beitrag der Häftlinge zum Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg hervor. Viele ehemalige Inhaftierte distanzierten sich deshalb von dem Museum, in dessen Beirat nun auch frühere Wärter aufgenommen wurden. Zahlreiche Russen unterschrieben eine Petition an den russischen Präsidenten, in dem sie gegen die Änderungen protestierten.

Die Menschenrechtskommission beim Präsidenten sorgte schließlich dafür, dass ein neues Museumskonzept erarbeitet wurde. In Abstimmung mit dem russischen Museumsbund wurde damit 2016 die Historikerin Julia Kantor beauftragt. Zwischen ihr und Vertretern der Regionalregierung kam es zu heftigen Auseinandersetzungen über die Ausrichtung des Museums. Mitglieder von Memorial warfen ihr andererseits vor, den Rauswurf der Museumsgründer durch ihre Arbeit legitimiert zu haben. 2019 endete Kantors Tätigkeit und das neue Konzept wurde auf mehreren Konferenzen diskutiert. Es sieht vor, den Schwerpunkt auf die 1970er Jahre zu legen und Einzelschicksale in den Mittelpunkt zu rücken. Auch Großereignisse sollen wieder stattfinden und die Busverbindungen verbessert werden. 

Die eigentliche Museumsarbeit kam jedoch weitgehend zum Erliegen. Zwar wurden einige kleinere Ausstellungen erstellt und drei Theaterstücke aufgeführt, doch die Besucherzahlen sanken um rund zwei Drittel. Während der Kontakt zu den ehemals Inhaftierten abgerissen ist, wird nun jedes Jahr eine wissenschaftliche Konferenz durchgeführt. Für viele ist Perm 36 deshalb vor allem ein Symbol für das Vorgehen des russischen Staates gegen Initiativen der Zivilgesellschaft.

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