Freundlich blickt der ältere Herr von seinem Schreibtisch auf. In einer riesigen Gedenkhalle in Taipei wird Diktator Chiang Kai-shek bis heute auf diese Weise gewürdigt. Doch die Aufarbeitung der Vergangenheit spielt in dem Inselstaat eine bedeutende Rolle. Bei Wissenschaftlern stieß dies lange Zeit nur auf geringe Aufmerksamkeit. Erst in den letzten Jahren ist im englischsprachigen Raum eine wachsende Zahl an Studien über den Prozess der „Übergangsjustiz“ in Taiwan erschienen.
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Mit großem Aufwand hat die Gedenkstätte im ehemaligen Militärgefängnis von Taipei die einstige Wäscherei wiederhergestellt. Während des Kriegsrechts mussten hier Gefangene Zwangsarbeit leisten. Seit dem Wahlsieg der oppositionellen Fortschrittspartei im Jahr 2016 hat die Aufarbeitung der Vergangenheit in Taiwan einen spürbaren Aufschwung erlebt. Zwei junge taiwanesische Wissenschaftler haben 2019 eine Zwischenbilanz gezogen – und ermuntern zu weiteren Forschungen.
Die Autoren Nien-Chung Chang-Liao und Yu-Jie Chen, beide Angehörige der taiwanesischen Akademie der Wissenschaften, untersuchen die Übergangsjustiz in Taiwan während der letzten 30 Jahre. Deren Entwicklung deutet ihrer Ansicht nach darauf hin, dass der Umgang mit historischem Unrecht ein dynamischer Prozess ist, der stark von den jeweiligen politischen Kräfteverhältnissen geprägt wird. Seit Beginn der Demokratisierung Taiwans sei der Prozess der Aufarbeitung, wie er von der ehemaligen Diktaturpartei der Kuomintang betrieben worden sei, nämlich vor allem auf Fragen der Wiedergutmachung fokussiert gewesen. Die Aufdeckung der Wahrheit und der individuellen Verantwortung sei dagegen kaum in den Blick genommen worden. Seitdem die Demokratische Fortschrittspartei Regierung und Parlament kontrolliere, sei es jedoch zu bedeutenden Änderungen gekommen.
Unter anderem ginge es nun auch um die Untersuchung des Parteivermögens der Kuomintang und um die Entfernung der zahlreichen Chiang Kai-shek-Statuen im Lande. Nach Meinung der Autoren steht Taiwan bei der Entwicklung einer umfassenden Aufarbeitung vor tiefgreifenden Herausforderungen. Eine erbitterte Parteipolitik könnte den Fortschritt jederzeit unterbrechen. Auch die Vermischung von Aufarbeitung und Identitätspolitik stelle ein Problem dar. Hinzu kämen die juristischen Schwierigkeiten und ein allgemeines Misstrauen gegenüber der Justiz sowie ein begrenztes öffentliches Engagement in Fragen der Aufarbeitung. Ob das Land weiterhin Erfolg habe, hänge davon ab, wie es diese Herausforderungen bewältige. Denn durch das Streben nach Gerechtigkeit und Aussöhnung werde das demokratische Taiwan erhalten und gestärkt.
Zur Studie der Autoren geht es hier (englisch).
Aktueller Überblick zur Aufarbeitung in Taiwan von Thomas J. Shattuck (englisch)
Nach der Diktatur. Instrumente der Aufarbeitung autoritärer Systeme im internationalen Vergleich
Ein Projekt am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg
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Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Wie eine natürliche Mauer umschließen die Berghänge das Umerziehungslager „Neues Leben“ auf Green Island. Ein Modell in der Gedenkstätte auf dem Gelände zeigt die Anordnung der Baracken und der Unterkünfte für die Wachmannschaften. Die taiwanische Architekturhistorikerin H. W. Lin hat die Gedenkstätten im Erinnerungspark zum Weißen Terror 2015 genauer analysiert.
Die Autorin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Orten, die mit herausgehobenen Ereignissen verknüpft sind. Ehemalige Folter- und Haftstätten, die in Gefängnismuseen umgewandelt wurden, spielen ihrer Ansicht nach in Taiwan eine wichtige Rolle. Sie dienten als Zeugnisse der Geschichte und formten die nationale Identität mit Blick auf seine zwischen Anhängern und Gegnern Chiang Kai-sheks umkämpfte Vergangenheit.
In ihrer Studie beschreibt die Autorin ausführlich die Geschichte des Umerziehungslagers „Neues Leben“ und des Gefängnisses „Villa Oasis“ auf der früheren Gefangeneninsel Green Island. Dabei setzt sie sich kritisch mit der Ausstellung in der heutigen Gedenkstätte auseinander. Ihrer Meinung nach wurde die Geschichte von den Erinnerungen der Menschen getrennt und auf der Basis einer vereinheitlichenden, kollektiven Interpretation neu konstruiert - eine "Rekonstruierte Einheitsgeschichte", wie auch der Titel ihres Aufsatzes lautet. So zeige die Ausstellung die Gebäude und Objekte auf eine ganz bestimmte Weise, während die Chronologie des Ortes verschleiert werde. Auch die Opfer würden zumeist als stumm und losgelöst von den ausgestellten Szenen präsentiert. Die Autorin schlägt deshalb vor, die Besucher durch sorgfältige Hinweise stärker auf den Ort zu lenken. Indem man dessen authentische Geschichte erzähle, könne man die Gedenkstätte nicht nur für das Publikum ansprechender machen, sondern auch ihre intellektuelle Integrationskraft stärken.
Die vollständige Studie finden Sie hier (englisch).
Website des Nationalen Menschenrechtsmuseums (englisch)
Website „Historische Stätten der Verfolgung“ (englisch)
Rund 43 000 Statuen Chiang Kai-sheks gab es in Taiwan im Jahr 2000. Diese stand früher in der Stadt Kaohsiung und befindet sich heute in einem "Erinnerungsgarten" neben dem Mausoleum des Diktators im Nordwesten des Landes. Mit ihren erst auf den zweiten Blick erkennbaren Beschädigungen ist sie ein Symbol für den Umgang mit Taiwans jüngster Geschichte. In einem Aufsatz zog die Autorin Naiteh Wu 2005 eine kritische Bilanz.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist ein schwieriger Prozess, der die Taiwanesen bis heute spaltet. Während für die einen Chiang Kai-shek das Land vor einer kommunistischen Diktatur bewahrt hat, war er für die anderen ein Eindringling und blutiger Diktator. In ihrem Aufsatz kritisiert die Autorin, dass die Opfer des Militärregimes zwar entschädigt, die Täter aber nicht bestraft wurden. Von Teilen der Gesellschaft würden sie sogar immer noch verehrt. Sie ruft dazu auf, die geschichtliche Wahrheit anzuerkennen, ohne dabei die Spaltung zwischen den ursprünglichen Inselbewohnern und den mit Chiang Kai-sheks Regierung eingewanderten Festlandschinesen zu vertiefen.
Zu ihrem Aufsatz aus der Anfangszeit der Aufarbeitung in Taiwan geht es hier (englisch).