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Zeitzeugenaussagen aus Chile

Die Fotos der Verfolgten füllen im chilenischen Menschenrechtsmuseum eine riesige Wand. Mehr als 30.000 Aussagen von Opfern sammelte die Kommission für politische Haft und Folter. 2004 legte sie einen 700-seitigen Bericht vor, in dem sie die Verbrechen des Pinochet-Regimes akribisch analysierte. Im Anhang standen die Namen von 28 000 Opfern, darunter 102 Kinder. Der Bericht, demzufolge fast alle Inhaftierten gefoltert wurden, ist die umfassendste Bestandsaufnahme der politischen Verfolgung in Chile.

Credit: Ciberprofe / CC BY 3.0

„Die Angst von damals steckt immer noch in mir“

Einsam steht das silberne Kreuz an der Straße zum Flughafen von Calama. Hier, im trockenen Wüstenboden, wurden die Leichen von 26 Männern begraben, die am 19. Oktober 1973 von chilenischen Militärs hingerichtet wurden. Als die Angehörigen davon erfuhren, waren ihre sterblichen Überreste verschwunden. Die Schwester eines der Opfer erinnert sich in einem von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International veröffentlichten Bericht, wie ihr Bruder verhaftet wurde.

„Ich bin die älteste Tochter einer typisch chilenischen Familie. Ich war 13 Jahre alt, als José Gregorio – viertes Kind und erster Junge – in unser Leben kam. Wir waren sehr glücklich, ihn zu haben, weil er wie eine Puppe war, mit der man spielen konnte, und wir haben ihn verkleidet, so dass er noch schöner aussah.   

Auf der Suche nach neuen Perspektiven kamen mein Vater und ich im August 1959 nach Calama im Norden Chiles. Ich war bereit, einen Job zu übernehmen. Der Rest der Familie folgte uns dorthin. Das war der Beginn unseres Lebens in Calama. Mein Vater und ich arbeiteten daran, die Familie zu ernähren. Meine Brüder wuchsen heran. Die beiden Ältesten heirateten, alle hatten Kinder – bis zum 11. September 1973, ein Datum, das unser Leben veränderte. 

José Gregorio, den wir und Freunde nur Pepe nannten, ging in die Sekundarschule. Von Montag bis Freitag lebte er bei mir, da wir näher an der Schule wohnten. Dann kam der 11. September. Ich erinnere mich, dass, als wir von unserem Büro nach Hause geschickt wurden, meine größte Sorge mein Bruder war. Ich sah Studenten, die aus dem benachbarten Chuquicamata kamen. Alles sah ruhig aus und ich hoffte, dass er zu Hause sein würde, weil es ab 16 Uhr eine Ausgangssperre gab. Das war meine einzige Sorge. Wir waren besorgt wegen der Nachrichten aus Santiago, der Hauptstadt, und aus anderen Städten.

Eines Nachts, am 24. September 1973, kam eine Gruppe von Carabineros mit meinem Vater zu mir. Ich werde den Gesichtsausdruck meines Vaters nie vergessen, als er sagte, dass sie wegen Pepe gekommen seien. Ich war in meinem Zimmer und mein Mann und Pepe schauten im Wohnzimmer fern. Was ich dort fand, war, dass mein Haus bereits voller Polizisten war. Pepe stand mit meinem Mann an der Wand und Carabineros durchsuchten Pepes Zimmer. Sie zerrissen die Matratze und überprüften alles, nahmen einige Dinge mit, nichts Besonderes. Sie nahmen auch meinen Bruder mit und sagten, dass wir ihn am nächsten Tag auf der Polizeiwache nach ihm fragen könnten.

Die Angst, die ich damals verspürte, steckt immer noch in mir. Später erfuhr ich, dass mein Bruder Kandidat für das Allgemeine Studentenzentrum am Lyzeum und Mitglied der Bewegung der Revolutionären Linken war. 

Pepe wurde auch vorgeworfen, er hätte geplant, die Polizeistation mit Dynamit in die Luft zu sprengen. Sie fanden aber keinerlei Dynamit, weder im Haus meines Vaters noch in meinem. Wir wussten einige Tage lang nichts über seinen Aufenthaltsort. Am 29. September wurde Pepe im Gefängnis von Calama gefunden. Dort war er bis zum 19. Oktober 1973, dem Tag, an dem er, wie wir später erfuhren, in den Hügeln von Topater ermordet wurde. 

Ihn zu verlieren, war für uns alle sehr schmerzhaft. Meine Eltern starben, ohne seine letzte Ruhestätte zu kennen und ohne zu wissen, ob irgendwelche der aufgefundenen sterblichen Überreste zu meinem Bruder gehörten. Zuerst mussten wir kämpfen, um die Leichen zu finden, dann erhielt das Forensische Institut den Auftrag, die fragmentierten Überreste in einem nicht markierten Grab zu untersuchen. Angeblich war Pepe dabei.   

Wir Calama-Frauen haben einen neuen forensischen Test der sterblichen Überreste in der Gedenkstätte auf dem Calama-Friedhof sowie der Taschen beantragt, die an das Forensische Institut geschickt wurden. Beides wurde jetzt zur Untersuchung ins Ausland geschickt, um sicher zu sein, dass es sich um unsere Verwandten handelt.“

Quelle: Amnesty International, Public Document, AI Index: AMR 22/005/2008, vom 16. Oktober 2008, S. 1f.

Links

Website der Kommission für politische Haft und Folter (spanisch)

Von der Kommission für politische Haft und Folter veröffentlichte Zeitzeugenberichte (spanisch)

 

Nach der Diktatur. Instrumente der Aufarbeitung autoritärer Systeme im internationalen Vergleich

Ein Projekt am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg

Twitter: @afterdictatorship
Instagram: After the dictatorship

Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

„Manchmal dachte ich, ich würde sterben“

Ein Wandgemälde in der Gedenkstätte José Domingo Cañas in Santiago de Chile erinnert an die Folterungen während der Militärdiktatur. Die chilenische Geheimpolizei DINA betrieb hier eines ihrer geheimen Verhörzentren. Die Inhaftierten wurden brutal geschlagen, mit Plastiktüten fast erstickt oder mit Stromschlägen malträtiert. Ein Betroffener, der 1984 in einer Kaserne in Valdivia festgehalten wurde, berichtete der Kommission für politische Haft und Folter, was er dort erlebte.

„Einer der Agenten war verschleiert und forderte mich in drohendem Tonfall zum letzten Mal auf, dass ich kollaborieren sollte. Da ich weiter leugnete, ordnete ein anderer Agent an, dass meine Kleider ausgezogen werden und dass er mich ‚operieren‘ werde. Es müssen zwei Leute gewesen sein, die mich gewaltsam ausgezogen haben, nur meine Socken haben sie angelassen. Mit Gewalt wurde ich zu einer Liege gebracht [...]. Sie fesselten meine Füße getrennt an den Enden der Liege, dasselbe geschah mit meinen Armen und Händen. Dann befestigten sie an den empfindlichsten Teilen meines Körpers (Genitalien, Brustwarzen, Bauch, Oberschenkel und Beine) verschiedene Vorrichtungen, die ich, weil meine Augen bedeckt waren, nicht sehen konnte und auch nicht wissen, was sie waren. Diese Geräte wurden an meinem Körper mit einem Klebeband fixiert [...]. Als einer von ihnen warnte, dass alles bereit sei, fühle ich plötzlich einen starken Schmerz in meinem ganzen Körper, der mich Sterne sehen ließ. Gleichzeitig fühlte ich, dass ich uriniere und mir in die Hose schiss. Als ich laut zu schreien begann, kamen sofort einige Agenten in den Raum, von denen einer rief: ‚Stopfe dem Schuft das Maul!‘ Sofort kam ein Agent mit einem Wolltuch, das er mir in den Mund steckte und festhielt. Sie verabreichten meinem Körper neue Elektroschocks an und forderten mich auf, Namen und Adressen von Personen zu nennen, die ich angeblich kennen sollte. Ich leugne weiterhin. Daraufhin forderten sie mich auf, nur einen Namen zu nennen und das wäre das Ende [...]. Mit Mühe brachte ich hervor, dass ich mit dem, was man mir vorwirft, nichts zu tun hätte. Der Offizier, der mich verhörte, drohte daraufhin, die Elektroschocks zu verstärken [...]. Manchmal dachte ich, ich würde sterben, weil ich nicht mehr in der Lage war, diese physischen und psychischen Qualen auszuhalten [...].“

Quelle: Informe de la Comisión nacional sobre prisión política y tortura, S. 236 (eigene Übersetzung)

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