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Dokumente zu Chile

„Centro de documentación“ steht in großen Lettern an der Glaswand im chilenischen Menschenrechtsmuseum. Dahinter können Interessierte im digitalisierten Teil der Museumssammlung recherchieren. Sie umfasst mehr als 40.000 Objekte, darunter Fotos, Gefangenenbriefe und Betroffeneninterviews. Die Sammlung beruht vor allem auf Unterlagen chilenischer Menschenrechtsarchive. Die Aufarbeitung der Vergangenheit in Chile wurde aber auch mit Gesetzen und Regierungserlassen vorangetrieben.

Credit: Ciberprofe / CC BY

Aufarbeitung per Regierungskommission

Die Spitzen der katholischen Kirche erweisen dem verstorbenen Weihbischof von Santiago de Chile, Sergio Valech, im November 2010 die letzte Ehre. Wie kein anderer steht sein Name für die Aufarbeitung der Militärdiktatur in Chile. Im Auftrag des sozialistischen Präsidenten Ricardo Lagos legte eine von ihm geleitete Kommission 2004 einen 700-seitigen Bericht über die Menschenrechtsverletzungen unter General Pinochet vor.

Der Erlass zur Einsetzung der Kommission trägt das Datum vom 26. September 2003. Als Mitglieder wurden mehrere Rechtsanwälte sowie eine Psychologin berufen. Opfervertreter waren nicht dabei. Aufgabe der Kommission war es nicht, eine allgemeine Analyse des Repressionssystems zu liefern. Sie sollte vielmehr individuell prüfen, wer aus politischen Gründen Haft und Folter erlitten hatte und Vorschläge machen, wie diese Personen vom Staat entschädigt werden sollten. Die Kommission bekam dafür die knappe Frist von einem halben Jahr gesetzt, mit einmaliger Verlängerungsmöglichkeit um drei Monate. Die Behörden waren dazu verpflichtet worden, die Kommission zu unterstützen, doch richterliche Befugnisse besaß sie nicht.

Als die Kommission im November 2004 nach sechsmonatiger Arbeit ihren Bericht vorlegte, hatte sie über 35.000 Personen angehört. Ohne umfangreiche Vorarbeiten und die Unterstützung von Menschenrechtsgruppen und Opferverbänden wäre dies kaum möglich gewesen. Viele Fälle waren vom Archiv der Vicara de la Solidaridad dokumentiert worden, einer Organisation, die von Kardinal Raél Silva Hennéques gegründet worden war, um die unter Pinochet Verfolgten zu verteidigen. Andere Unterlagen waren im chilenischen Menschenrechtsarchiv zusammengeführt worden, das 2003 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Über 40.000 dieser Dokumente sind heute im Menschenrechtsmuseum zugänglich.

Die Valech-Kommission stufte über 27.000 Personen als „direkte“ Opfer ein. 94 Prozent von ihnen gaben an, gefoltert worden zu sein. Da der Großteil der abgelehnten Personen eine Revision beantragte, legte die Kommission im Juni 2005 einen aktualisierten Bericht vor, der weitere 1204 Fälle enthielt. Fünf Jahre später wurde die Kommission dann noch einmal reaktiviert. Nach achtzehnmonatigen Untersuchungen führte sie in einem Bericht vom August 2011 fast 10.000 weitere Fälle auf. Insgesamt erkannte die Kommission 38.254 Menschen als Opfer der Militärdiktatur an.

In den Kommissionsberichten werden die Aussagen der Betroffenen nur anonymisiert wiedergegeben. Bis 2054 wurden sie unter Strafandrohung für geheim erklärt. Weil sie deshalb nicht in anderen Gerichtsverfahren verwendet werden können, setzt sich eine Initiative für ihre Deklassifizierung durch die Betroffenen ein. Bis 2012 wurden insgesamt 76 Offiziere angeklagt und 67 verurteilt, darunter 27 Carabineros waren. 350 Fälle galten damals als offen.

Zum Erlass über die Einrichtung der Kommission für politische Haft und Folter geht es hier (spanisch).

Links

Digitales Archiv der Menschenrechtsverletzungen in Chile (spanisch)

UNESCO-Präsentation des chilenischen Menschenrechtsarchivs (englisch) 

Bericht der Kommission für politische Haft und Folter (spanisch)

Website der Initiative zur Deklassifizierung der Aussagen vor der Valech-Kommission (spanisch)

 

Nach der Diktatur. Instrumente der Aufarbeitung autoritärer Systeme im internationalen Vergleich

Ein Projekt am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg

Twitter: @afterdictatorship
Instagram: After the dictatorship

Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Chiles Entschädigungsgesetze

Wie ein künstlicher Wald sollen die eintausend Holzstämme wirken, die 2008 in der Stadt Paine südlich von Santiago de Chile als Mahnmal errichtet wurden. Mit Mosaiken verzierte Lücken erinnern an die 70 Bewohner, die während der Militärdiktatur hingerichtet wurden oder verschwunden sind. Doch in Chile wird der Opfer nicht nur mit zahlreichen Denkmälern gedacht. Seit 1992 zahlt der Staat auch Entschädigungen.

Als der Christdemokrat Patricio Aylwin im März 1990 das Präsidentenamt übernahm, setzte er sechs Wochen später eine Wahrheits- und Versöhnungskommission ein. Sie sollte die gravierendsten Menschenrechtsverletzungen unter seinem Vorgänger Augusto Pinochet klären. Ihre Aufgabe war es, eine Liste der Opfer zu erstellen und Maßnahmen der Wiedergutmachung vorzuschlagen. Geleitet wurde die Kommission von dem Juristen Raúl Rettig. Im Februar 1991 übergab sie ihren Bericht. Danach  waren während der Militärdiktatur 1068 Menschen getötet worden, 957 verschwunden und 90 durch nicht-staatliche Übergriffe ums Leben gekommen.

In einer landesweiten Fernsehsendung entschuldigte sich Präsident Aylwin daraufhin für die Verbrechen, die mehrheitlich von der chilenischen Geheimpolizei DINA begangen worden waren. Aufgrund der Empfehlungen der Kommission wurde 1992 das Gesetz Nr. 19123 verabschiedet. Es sah vor, dass den nächsten Angehörigen der Getöteten eine monatliche Rente von 140.000 chilenischen Pesos gezahlt wird (nach heutigem Umrechnungskurs 157 Euro). Zur Abwicklung wurde ein Amt für Wiedergutmachung und Versöhnung gegründet, das weitere Recherchen durchführen und nach fünf Jahren wieder aufgelöst werden sollte.

Die Untersuchung und Wiedergutmachung beschränkte sich allerdings Anfang der 1990-er Jahre auf politisch motivierte Todesfälle. Deshalb setzte der sozialistische Präsident Ricardo Lagos 2004 eine zweite Kommission ein, die auch die Fälle politischer Haft und Folter untersuchen sollte. Nach sechsmonatiger Arbeit legte sie im November 2004 eine Liste mit 38.254 Namen von Menschen vor, die inhaftiert und meistens auch gefoltert worden waren. Die Liste der Verschwundenen und Toten wurde außerdem um 30 Personen ergänzt.

Nur wenige Wochen später wurde das Gesetz Nr. 19992 verabschiedet. Es sah vor, dass ehemalige Häftlinge eine monatliche Zahlung von etwa 113.000 bis 129.000 Pesos erhalten sollten (nach heutigem Umrechnungskurs 127 bis 144 Euro). Außerdem erhielten sie eine kostenlose öffentliche Gesundheitsversorgung und unterbrochene Ausbildungsgänge konnten gebührenfrei nachgeholt werden. Vier Millionen Pesos (4480 Euro) bekamen Kinder, die als Minderjährige inhaftiert oder im Gefängnis geboren worden waren. Zuständig für die Abwicklung der Zahlungen wurde die staatliche Rentenversicherung.

Zum Entschädigungsgesetz von 1992 geht es hier, zum Entschädigungsgesetz von 2004 hier (spanisch).

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