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Analysen zu Argentinien

Am 24. März 1977, dem ersten Jahrestag des Putsches, schrieb der Schriftsteller Rodolfo Walsh einen mehrseitigen offenen Brief an die Militärs. Nur wenige Stunden, nachdem er ihn an mehrere Medien verschickt hatte, wurde er auf der Straße erschossen. Der Brief, der heute in der Gedenkstätte ESMA auf riesigen Glastafeln ausgestellt wird, ist eine der ersten Analysen der Militärherschaft. Inzwischen haben zahlreiche Wissenschaftler das Regime und seine Aufarbeitung untersucht.

Credit: Espacio Memoria y Derechos Humanos, CC BY-SA 3.0 

Der lange Kampf um Anerkennung

“Desaparecido” (Verschwunden) steht unter den Fotos, die Angehörige Verfolgter im ehemaligen Polizeigefängnis von Rosario aufgestellt haben. Es folgt das Datum, an dem die Abgebildeten verhaftet wurden. Menschenrechtler schätzen die Zahl der nach ihrer Verhaftung Verschwundenen auf 30.000. Der Schweizer Historiker Alexander Hasgall hat den mühseligen Kampf um ihre Anerkennung als Opfer der Militärdiktatur analysiert. Seine These: Der Kampf war auch deshalb erfolgreich, weil die Gesellschaft auf diese Weise von ihrer Mitverantwortung entlastet wurde.

Die Militärs nannten sie “Subversivo“ (subversiv). Tatsächlich gehörten viele der in Argentinien Verhafteten und Ermordeten gewalttätigen linken Organisationen an. Doch Menschenrechtler erreichten, dass der abfällige Begriff der Militärs nach und nach durch ein neutrales Wort ersetzt wurde: „Desaparecido“ (Verschwunden). Die eher vage Bezeichnung bildet heute einen Schlüsselbegriff der Aufarbeitung in Lateinamerika.

Der Historiker Alexander Hasgall deutet diesen begrifflichen Wandel als Ausdruck eines „Anerkennungskonflikts“. Aus der "erkannten" Wahrheit sei eine "anerkannte" geworden. Wie es dazu kam, ist Gegenstand seiner umfangreichen Doktorarbeit.

Ausführlich beschreibt Hasgall darin den Kampf von Angehörigen und Menschenrechtsaktivisten um die Anerkennung der „Wahrheit“ des Verschwindenlassens. Nachdem die Militärs diese Praxis lange Zeit leugneten, habe eine Anhörung vor dem US-Kongress erstmals deutlich gemacht, dass es sich nicht um Einzelfälle handelte. Der Versuch der Militärs, im In- und Ausland als „Retter der Nation“ anerkannt zu werden, habe dadurch zunehmend unglaubwürdig gewirkt. 

Nach dem Ende des Militärregimes sei der „Anerkennungskonflikt“ in eine neue Phase geraten: Der erste demokratisch gewählte Staatspräsident Raúl Alfonsín habe versucht, die Forderungen der Menschenrechtsorganisationen durch Einsetzung einer Wahrheitskommission zu erfüllen. Diese untersuchte das "Verschwinden" von knapp 9.000 Personen und veröffentlichte 1984 einen umfangreichen Bericht. Unter großer öffentlicher Anteilnahme wurde anschließend führenden Junta-Mitgliedern der Prozess gemacht. Doch um das Militär nicht zu provozieren, habe der Präsident die Bestrafung der Verantwortlichen auf wenige Personen begrenzt.

In den frühen 1990-er Jahren, so Hasgall, kamen die Forderungen nach „Recht“ und „Wahrheit“ dann weitgehend zum Erliegen. Der neue Präsident Carlos Menem propagierte stattdessen einen Kurs der nationalen Versöhnung. Als eine alternative Form der "Anerkennung" wertet Hasgall allerdings die damals beschlossenen Reparationsprogramme und die sogenannten Wahrheitsprozesse. In einem langen Rechtsstreit hatte eine Mutter 1998 das Recht erkämpft, das Schicksal verschwundener Kinder gerichtlich klären zu lassen. In beiden Fällen lenkte der argentinische Staat aber erst nach Anrufung des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichthofes (CIDH) ein.

Im letzten Teil seiner Arbeit widmet sich Hasgall noch einmal dem begrifflichen Wandel beim Umgang mit der Militärdiktatur. Der Begriff der "Verschwundenen" musste sich ihm zufolge nicht nur gegen die Sprache desMilitärs durchsetzen. Auch die militanten Kämpfer der Montoneros und der peronistischen Jugend heroisierten die Opfer lieber als „Freiheitskämpfer“ und „Revolutionäre“. Vor allem die Mütter entführter Kinder etablierten jedoch die Bezeichnung der "Verschwundenen", weil sie anschlussfähiger für eine breite Solidaritätsbewegung war. „Der  Preis  für  die  Unterstützung  durch  die  internationalen  Menschenrechtsorganisationen war somit der posthume Entzug einer Identität als militante Kämpfer," so Hasgall.

Die  Figur  des  „unschuldigen  Opfers“ und die Forderung „Nie wieder“ wurden dem Historiker zufolge schließlich zu zentralen Bestandteilen des argentinischen Nationalbewusstseins. An die Stelle der ambivalenten Haltung zur Gewalt sei eine neue  Eindeutigkeit getreten, die zwischen  der  unschuldigen  argentinischen  Gesellschaft als Opfer und der Guerilla und den Militärs als Verantwortliche unterschied. Dies habe es der Bevölkerung ermöglicht, sich einer Diskussion über die eigene Mitverantwortung für die Eskalation der Gewalt in Argentinien zu entziehen.

Zur Studie von Alexander Hasgall geht es hier.

Links

Verschiedene Listen der Verschwundenen in Argentinien (spanisch)

Die Juristin Katya Salazar über die Wahrheitskommissionen in Argentinien, El Salvador und Guatemala

Die Soziologin Anika Oettler über Wahrheitskommissionen in Lateinamerika 

Der Soziologe Emilio Crenzel über die Arbeit der Nationalen Kommission über das Verschwinden von Personen (CONADEP) (eingeschränkter Zugang, englisch)

 

Nach der Diktatur. Instrumente der Aufarbeitung autoritärer Systeme im internationalen Vergleich

Ein Projekt am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg

Twitter: @afterdictatorship
Instagram: After the dictatorship

Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Auf der Suche nach Gerechtigkeit

Mit ernsten Gesichtern betreten die ehemaligen Mitglieder der Militärjunta im Mai 1985 den Gerichtssaal in Buenos Aires. Im Dezember wurden fünf von ihnen zu langen Haftstrafen verurteilt. Doch 1990 begnadigte sie Präsident Carlos Menem – eine Entscheidung, die zwanzig Jahre später wieder aufgehoben wurde. Die Menschenrechtsexperten Pär Engström und Gabriel Pereira haben den Prozess der strafrechtlichen Aufarbeitung in Argentinien untersucht. Sie sprechen von „Ebbe und Flut bei der Suche nach Gerechtigkeit“.

Lange Zeit waren die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverbrechen in Argentinien qua Gesetz vor der Strafverfolgung geschützt. Dass dieser Schutz Jahrzehnte später aufgehoben wurde, bezeichnen die Autoren als einzigartig. Argentinien sei das erste Land in Lateinamerika gewesen, in dem es zu einer solchen Außerkraftsetzung von Amnestieregelungen gekommen sei. In ihrer Studie untersuchen sie, wie es dazu kommen konnte und ob dieser Weg auch für andere Länder ein Vorbild sein könnte.

Im ersten Teil ihrer Untersuchung berichten die Autoren von den Bemühungen unter Präsident Raúl Alfonsín, die Strafverfolgung auf wenige Verantwortliche zu beschränken. Im zweiten Teil beschreiben sie, wie die nachfolgenden Regierungen versuchten, die Strafverfolgung ganz zu beenden und durch Versöhnung und Wiedergutmachung zu ersetzen. Dagegen hätten die verstärkten Bemühungen von Menschenrechtsorganisationen gestanden, der Straffreiheit durch Prozesse im In- und Ausland entgegenzuwirken. Im letzten Teil untersuchen Engström und Pereira dann, wie es zur Aufhebung der argentinischen Amnestiegesetze kam. 2003 hatte das Parlament eine entsprechende Entscheidung getroffen, zwei Jahre später auch der Oberste Gerichtshof.  

Für diesen grundlegenden Wandel identifizieren die Autoren fünf Ursachen: Eine wesentliche Rolle habe die Existenz von gut organisierten und strategisch kreativen Menschenrechtsorganisationen gespielt. Robuste Verbindungen zu internationalen Institutionen und transnationalen Netzwerken hätten deren politische Position dabei erheblich gestärkt. Ein zweiter Faktor sei die politische Ausrichtung des jeweiligen Präsidenten gewesen, welche die Höhen und Tiefen der strafrechtlichen Aufarbeitung grundlegend geprägt hätte. Zum Dritten weisen die Autoren den Gerichten als "Arenen der Menschenrechtspolitik" eine Schlüsselrolle zu. Entwicklungen im nationalen und internationalen Recht prägen ihrer Meinung nach auch das normative Umfeld, in dem politische Akteure agierten.

Als weitere Faktoren machen Engström und Pereira die Unterstützung durch andere staatliche Stellen in Argentinien aus. Wenn es diese nicht gegeben hätte, wäre die Wiederaufnahme der Strafverfolgung womöglich nur ein symbolischer Akt geblieben, da die Justiz nicht ausreichend vorbereitet gewesen sei. Schließlich hätte die allmähliche Verringerung der politischen Macht des Militärs einen günstigen Kontext für den Versuch geschaffen, Soldaten und Polizisten für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Das Fazit der Autoren: Übergangsjustiz ist kein linearer Prozess, sondern ein Auf und Ab, dessen Richtung von verschiedenen Faktoren abhängig ist.

Zur Studie von Pär Engström und Gabriel Pereira geht es hier (englisch).

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