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Zeitzeugenaussagen aus der Ukraine

Hungertod, Deportationen, Massenerschießungen – nicht zu Unrecht hat der Historiker Timothy Snyder das Gebiet der heutigen Ukraine zu den „Bloodlands“ (Blutlande) gerechnet, in denen in den 1930er- und 1940er-Jahren besonders viele Menschen getötet wurden. Eine Aufarbeitung der Verbrechen war jahrzehntelang nur eingeschränkt möglich. Viele Zeitzeugenberichte wurden erst in den letzten Jahren gesichert.

"Jeder wartet nur auf den Tod"

Auf einem Bürgersteig in Charkiw liegen verhungerte Menschen. Das Foto und etwa 100 weitere Aufnahmen schmuggelte der österreichische Chemieingenieur Alexander Wienerberger 1933 ins Ausland. Sie gehören zu den wenigen Bildern der Hungersnot in der Ukraine. Etwa zur selben Zeit durfte Maria Zuk die Sowjetunion verlassen, um zu ihrem Mann nach Kanada zu ziehen. Die Bäuerin, die aus der Nähe von Odessa stammt, gab auf der Durchreise einer ukrainischen Emigranten-Zeitung in Winnipeg ein Interview. Es ist eine der frühesten Schilderungen des Holodomors.

Wann haben Sie Ihre Heimat verlassen?

Am 5. August [1933].

Wie haben die Menschen in der Ukraine da gelebt?

Es gab eine schreckliche Hungersnot. Die Menschen verhungerten wie die Fliegen.

Sind viele an Hunger gestorben?

Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, hat im Umkreis von 25 Werst [ca. 27 Kilometer] etwa ein Viertel der Bevölkerung überlebt; drei Viertel sind gestorben.

Leiden die Menschen schweigend unter der Hungersnot oder rebellieren sie?

Wie sollen sie rebellieren, und was würden sie durch Rebellion erreichen? Sie leiden, weil sie alle Hoffnung verloren haben. Sie gehen wie Blinde und fallen hin, wo immer der Tod sie niederrafft. Niemand achtet auf die Leichen, die auf den Straßen liegen. Die Leute steigen entweder über sie hinweg oder weichen ihnen aus und gehen weiter. Von Zeit zu Zeit werden sie aufgesammelt und in Gemeinschaftsgruben bestattet. Siebzig und mehr Menschen liegen dort zusammen begraben.

Haben Sie etwas über Fälle von Kannibalismus gehört?

Warum nicht? Das kommt ständig vor. Es gab Fälle, in denen eine Mutter mit ihren Kindern hungerte und sie dann tötete und aß, als sie sah, dass sie sterben würden. Oder wenn Sie eine Straße entlang gehen und eine Leiche sehen. Dann schauen Sie sich um, ob jemand zusieht, und schneiden ein Stück Fleisch ab, um es dann zu backen oder zu kochen.

Was ist der Grund für die Hungersnot? Gab es eine Dürre oder eine schlechte Ernte oder säen Sie nichts?

Es gab eine Ernte, wir säen und wir pflanzen. Aber sobald etwas wächst, nehmen sie alles weg und bringen es nach Moskau. Wir hatten in diesem Sommer eine gute Ernte – aber was hilft's? Sie haben die Maschinen in die Felder geschickt, haben alles abgemäht und gedroschen und ließen kein einziges Korn zurück. Sie haben alles mitgenommen. Die Leute weinten und fragten: „Was sollen wir essen?" Aber die Tschekisten [Angehörige der sowjetischen Geheimpolizei] lachten und antworteten: „Ihr werdet schon etwas finden.“ Was haben die Menschen nicht alles getan, um für sich etwas Getreide zu verstecken! Sie haben es in ihren Haaren versteckt, in ihrem Mund, unter ihrer Zunge. Aber sie [die Tschekisten] suchten es und nahmen es ebenfalls mit.

Leben die Menschen auf den Kolchosen besser?

Am Anfang hatten sie es besser, aber jetzt nehmen sie ihnen auch alles ab. Ich selbst war auf einer Kolchose, und dass ich nicht gestorben bin, sondern weggehen konnte, lag nur daran, dass mir mein Mann aus Kanada Geld geschickt hat. Damit konnte ich in den Torgsin-Läden [staatliche Läden, in denen nur Devisen akzeptiert werden] einkaufen.

Erwarten die Leute wenigstens eine bessere Zukunft?

Früher schon, aber jetzt wird es mit jedem Jahr schlimmer und schlimmer. Inzwischen sind sie am Limit angelangt. Niemand erwartet mehr etwas; jeder wartet nur auf den Tod. Auch die Beamten wissen nicht, was die Zukunft bringt und zucken nur mit den Schultern. Manche sagen den Leuten: „Rebelliert, und wir werden uns euch anschließen.“ Die Leute antworten: „Rebelliere Du zuerst.“

Wie sind Sie nach Kanada gekommen? Durch Rumänien?

Nein, das ist unmöglich. Man muss über Moskau fahren.

Und wie leben die Menschen in Moskau? In der Region Moskau? Gibt es dort auch eine Hungersnot?

Nein, dort gibt es keine Hungersnot. Es gibt von allem genug. Als ich in Moskau ankam, konnte ich auf dem Basar alles kaufen, was ich wollte – Brot und Fleisch und Gemüse.

Und wie viel hat Ihr Reisepass nach Kanada gekostet?

283 Dollar.

Rubel oder Dollar?

Dollar, amerikanische Dollar. Mein Mann musste sie aus Kanada schicken. Sie selbst zu verdienen, ist unmöglich. Sehen Sie diese Hausschuhe an meinen Füßen? Sie haben mich letztes Jahr 90 Rubel gekostet. Ich musste drei Monate arbeiten, um sie kaufen zu können.

Sie nehmen Euch Weizen und Getreide, so dass Ihr kein Brot habt – aber Eure Tiere dürft Ihr behalten? Kühe, Pferde, Hühner, Schweine?

Die Hungernden haben alles aufgegessen. Wenn irgendjemand noch ein Pferd oder eine Kuh hat, hütet der sie wie den größten Schatz. Die Leute haben Feldmäuse gefangen und sie wie die größten Delikatessen gegessen. Die Katzen und Hunde wurden schon vor längerer Zeit gegessen. Einige Kolchosen haben noch Schweine, aber die Tschekisten bewachen sie und beschlagnahmen sie und bringen sie weg, sobald sie fett sind. Die Leute haben schon vergessen, wie Schweinefleisch schmeckt....

Zum vollständigen Interview geht es hier (englisch, S. 2f.).

Links

Zeitzeugeninterviews mit Überlebenden des Holodomors (englisch)

Website mit Augenzeugenberichten zum Holodomor (englisch)

Website mit Fotosammlungen zum Holodomor (englisch)

Digitale Sammlungen des Holodomor-Forschungs- und Bildungszentrums (englisch)

 

Nach der Diktatur. Instrumente der Aufarbeitung autoritärer Systeme im internationalen Vergleich

Ein Projekt am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg

Twitter: @afterdictatorship
Instagram: After the dictatorship

Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

"Es gab vier Reihen mit ermordeten Gefangenen"

Das Brygidki-Gefängnis in Lwiw: 1941 wurde das einstige Nonnenkloster Schauplatz eines Massenmordes. Nach dem  Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen 1939 hatte die sowjetische Geheimpolizei den barocken Zellenbau übernommen. Zwei Jahre später ermordete sie in diesem und zwei weiteren Gefängnissen der Stadt rund 7000 Häftlinge, bevor sie vor der Wehrmacht die Flucht ergriff. Auch später fanden hier immer wieder Hinrichtungen statt. In einer ukrainischen Exil-Zeitung erschien 1960 der Bericht einer Überlebenden des sowjetischen Massakers.

"Am Sonntag [29. Juni 1941] erfuhr ich von Dr. Kashubynsky, dass die Gefängnisse voller Leichen ermordeter Häftlinge seien, und dass dies vor allem im Lonzki-Gefängnis der Fall sei. Am Montag, dem 30. Juni 1941, bemerkte ich dann in der Morgendämmerung durch mein Fenster eine deutsche Patrouille auf der Straße. Am selben Morgen ging ich früh ins Lonzki-Gefängnis. Aber der Gestank von verwesenden Leichen war so fürchterlich, dass es unmöglich war, das Gefängnis zu betreten.

Ich ging dann weiter in Richtung des Gefängnisses Samarstyniw. Auf dem Weg dorthin traf ich eine Frau, die mit mir in derselben Zelle im Gefängnis Samarstyniw gesessen hatte. Sie erzählte mir, sie habe von einem anderen Häftling erfahren, dass mein Bruder im Samarstyniw-Gefängnis ermordet worden sei. Da ich bereits während meiner Haftzeit dort wusste, dass mein Bruder im gleichen Gefängnis saß wie ich, begab ich mich dorthin, um nach seiner Leiche zu suchen. Als ich ankam, sah ich draußen eine große Menschenmenge. Vor dem Gefängnis standen deutsche Posten, die die Menschen einzeln oder in kleinen Gruppen hereinließen. Als ich ihnen sagte, dass ich gekommen sei, um nach der Leiche meines ermordeten Bruders zu suchen, erlaubten sie mir hineinzugehen.

Dann wurde ich Zeuge der folgenden Szene: Es gab vier Reihen mit Leichen ermordeter Gefangener. Ich habe 40 Leichen gezählt, darunter 13 weibliche. An ihrer Kleidung erkannte ich die Körper von drei Frauen, mit denen ich dieselbe Zelle geteilt hatte, aber ihre Gesichter waren nicht mehr erkennbar. Eine der Frauen hieß Iryna Schust und kam aus Brody. Die andere Frau war aus Lemberg [Lwiw], und die dritte war eine Polin, deren Vorname Marysia war. An den Leichen konnte man erkennen, dass einige ihrer Knochen gebrochen waren. Ich konnte die Leiche meines Bruders unter den männlichen Leichen nicht finden, da ich nicht wusste, welche Kleidung er im Gefängnis getragen hatte. Ich fragte dann, ob es noch weitere Leichen gäbe. Mir wurde gesagt, dass es welche gäbe, aber dass diese nicht besichtigt werden könnten, da sie nicht mehr erkennbar seien. Sie befänden sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Fäulnis.

Ein paar Tage später traf ich auf der Straße eine Jüdin und eine Polin, mit denen ich ebenfalls eine Zelle geteilt hatte. Sie sagten mir, dass die meisten Hinrichtungen im Samarstyniw-Gefängnis am Donnerstag, dem 26. Juni 1941, stattgefunden hätten. Die beiden Frauen waren zur Erschießung in den Keller gebracht worden und auf dem Weg dorthin meinem Bruder begegnet. Der sei ebenfalls zur Erschießung dorthin gebracht worden und hätte sich nach mir erkundigt. Die Frauen erzählten, dass den Gefangenen von hinten ins Genick geschossen worden sei, wenn sie den Eingang zum Keller erreicht hätten. Sie selbst seien dem Tod entronnen, indem sie sich am Kellereingang hätten fallen lassen. Sie hätten sich dann unter den Leichen der Ermordeten versteckt und so lange dort gelegen, bis alles wieder ruhig war und sie das Gefängnis verlassen konnten.

Ich bin bereit, vor Gericht die Wahrheit meiner Aussage unter Eid zu beschwören."

Zum vollständigen Bericht geht es hier (englisch, S. 288ff).

"Wir gingen in den sicheren Tod"

Fast friedlich wirkt diese Szene, die der Fotograf Johannes Hähle am Rande der Schlucht Babyn Jar bei Kiew 1941 einfing. In Wahrheit sind Gefangene gerade dabei, die Spuren einer der größten Massenexekutionen der deutschen Besatzungsmacht in der Ukaine zu beseitigen. Am 29./30. September 1941 wurden hier über 30.000 jüdische Bewohner Kiews erschossen. Der 15-jährige Ruwim Schtein überlebte das Massaker. Nach dem Ende der Sowjetunion interviewte ihn der ukrainische Historiker Boris Zabarko und veröffentlichte diesen Bericht.

"Der Menschenstrom zog sich vom frühen Morgen an durch die Artemastraße, die Glubotschizki-Straße, die Melnikow-Straße und andere. Wie Bäche strömten die jüdischen Familien zu einem großen Fluss zusammen, der sich bis zum Lwower1 Platz hinzog. Wohin gingen sie alle?! Die einen sagten, dass sie fürs Ghetto bestimmt seien, die anderen, dass sie auf Militärzüge geladen und nach Palästina geschickt werden würden. Dass man sie erschießen würde, das glaubte fast niemand. Die Hoffnung stirbt immer zuletzt! Niemand glaubte daran, dass er den letzten Tag lebte, die letzte Stunde, die letzte Minute. Sie würden es nicht fertig bringen, Frauen zu töten, Kinder, Alte!!!

Meine Familie machte sich, wie alle Juden der Stadt Kiew, auf den Weg. Bevor wir das Haus verließen, konnte ich noch von einigen Leuten in Erfahrung bringen, dass alle Juden erschossen werden sollten. Ich erzählte auch Mama davon, aber sie wollte es weder hören, noch daran glauben, dass sie so viele unschuldige Menschen erschießen könnten – Alte, Kinder, Frauen.

Meine Familie – Mutter, 38 Jahre alt, meine Schwester, 6 Jahre alt und ich, 15 Jahre alt – glaubte an das Leben, und wir verhielten uns so, wie alle Juden der Stadt. Wir gingen in den sicheren Tod. Mit unseren alten Habseligkeiten, unseren Dokumenten und Familienfotos mündeten wir buchstäblich in diesen endlosen Menschenstrom ein, der in den Tod marschierte.

Ungefähr 200 oder 300 Meter vor dem Friedhof hielt der Menschenstrom an. Die Braunhemden mit den Hakenkreuzen und die Feldgendarmerie bildeten Kolonnen und führten die Leute gruppenweise um die eine Straßenecke, dann um die nächste bis hinter den Friedhof. Die Wartenden konnten nichts sehen. Die Juden, die an diesem Endpunkt ankamen, wurden nach und nach unbarmherzig gedemütigt: Zuerst nahm man ihnen die Dokumente, die Kleider und die Wertsachen ab. Die Pässe, Dokumente und Fotografien wurden sofort ins Feuer geworfen. Den Frauen wurden die Kleider heruntergerissen und auf einen riesigen Haufen geworfen. Die nackten Frauen, Kinder und Alten wurden in geschlossene Autos getrieben und nach Babi Jar gebracht.

Es ist unmöglich zu beschreiben, was an diesem Ort vor sich ging – Hysterie und Terror, Weinen und Verzweiflung, Betteln von Müttern um Gnade für ihre Kinder. Viele verloren das Bewusstsein.

An diesem Ort wurde ich für immer von meiner Mama und meiner Schwester getrennt. Sie wurden in Vergasungswagen2 weggebracht, und ich wurde am Kragen gepackt und in die Reihe gesteckt, wo die Männer, Jugendlichen und die Alten standen, die noch gehen konnten. Sie stellten Gruppen von 100 bis 150 Leuten zusammen und führten sie kolonnenweise, zu Fuß, unter Bewachung von Soldaten nach Babyn Jar zur Erschießung.

Von den ersten Schritten unseres Weges an begann ich nach irgendeiner Möglichkeit zu suchen, um aus der Kolonne zu flüchten. Aber wie und auf welche Weise? Die Kolonne wurde von bewaffneten Hitlermännern geführt und als es nur noch 250 oder 300 Meter bis Babyn Jar waren (man konnte schon Schreie und Schüsse hören), sprang ich unauffällig aus der Kolonne in den Straßengraben, kroch in ein Wasserabflussrohr unter der Straße und saß dort bis zum Einbruch der Dunkelheit. Als die Kolonnen nicht mehr so häufig vorbeikamen, kletterte ich auf der anderen Straßenseite heraus und ging über den alten Friedhof und durch die Gemüsegärten zum Stadtrand. In der Nacht schlug ich mich dann zu uns nach Hause durch. Eine ganze Woche lang saß ich in der Wohnung ohne hinauszugehen, und erst als ich hörte, dass jemand von außen versuchte, die Tür zu öffnen, ließ ich mich vom Balkon der ersten Etage an der Regenrinne herunter und lief weg."

Zum vollständigen Bericht von Ruwim Schtein geht es hier (S. 17-26).

1) Der Vorlage folgend werden die Ortsbezeichnungen hier aus dem Russischen und nicht aus dem Ukrainischen transkribiert.
2) Vergasungswagen – im NS-Jargon: Gaswagen – wurden wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge zum Zeitpunkt der Massenexekution in Babyn Jar noch nicht eingesetzt.

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