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Analysen zur Ukraine

Im Holodomor-Museum in Kiew studieren Besucher die ausgestellten Materialien. Im Gegensatz zu anderen postkommunistischen Ländern hat die Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit in der Ukraine erst verspätet eingesetzt dann aber mit vergleichsweise radikalen Instrumenten. Osteuropa-Experten haben diesen Prozess mit kritischen Analysen begleitet.

Credit: Adam Jones from Kelowna, BC, Canada / CC BY-SA 2.0

Lustration in der Ukraine

Kein anderer Platz in der Ukraine ist so bekannt wie der Majdan Nesaleschnosti der Platz der Unabhängigkeit in Kiew. 2004 versammelten sich hier hunderttausende Ukrainer zur “Orangenen Revolution“. Zehn Jahre später war der Platz erneut Schauplatz von Protesten, als die Bewegung des "Euromajdan" für einen tiefgreifenden Wandel des politischen Systems sorgte. Die Politikwissenschaftlerin Evgenija Lezina hat 2016 untersucht, ob die Forderung der Demonstranten nach einem grundlegenden Elitenwechsel erfolgreich war.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern des Ostblocks war die Ukraine bis 1991 praktisch nie ein eigener Nationalstaat gewesen. Nicht einmal eine nationale Kommunistische Partei hatte es hier gegeben, da diese gleich nach ihrer Gründung der russischen beigetreten war. „Die lange Existenz der Ukraine im russländischen Imperium und in der Sowjetunion ließ eine gemischte Gesellschaft entstehen“, konstatiert deshalb die Autorin zu Beginn ihrer Analyse. Dies habe zu einer engeren Durchdringung der Eliten und einer intensiveren Durchsetzung totalitärer Praktiken im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft geführt. Auch nach der Unabhängigkeit behielten viele kommunistische und russische Funktionäre ihre Machtpositionen, beispielsweise beim ukrainischen Geheimdienst SBU.

Ernstzunehmende Bemühungen um eine Entkommunisierung habe es erst nach der „Orangenen Revolution“ gegeben. Sie beschränkten sich jedoch im Wesentlichen auf die staatliche Gedenkpolitik. Erst 2014, nach dem „Euromajdan“ und der Flucht des Präsidenten Viktor Janukowitsch, dem „Protegé der Ex-Sowjetnomenklatura und des Kremls“, habe sich dies geändert. Die Forderung nach einer Lustration – also die Überprüfung der Beamten und Spitzenfunktionäre mit dem Ziel der Auswechslung belasteter Kader – sei nun ins Zentrum gerückt. Dabei habe auch eine Rolle gespielt, dass die ukrainischen Verluste im Krieg mit den Separatisten im Donbass unter anderem auf eine russische Infiltration der ukrainischen Militärstrukturen zurückgeführt wurden.

Im Oktober 2014 – also über zwei Jahrzehnte nach Erlangung der Unabhängigkeit – verabschiedete das ukrainische Parlament deshalb das „Gesetz zur Säuberung des Regierungsapparates“. Es war wesentlich von Aktivisten des "Euromajdan" entworfen worden und hatte mehrere Aufgaben: Zum Einen sollten ehemalige Kader der KPdSU und frühere Mitarbeiter der sowjetischen Geheimdienste aus dem Staatsapparat entfernt werden. Zum Zweiten sollten Spitzenfunktionäre, die unter Janukowitsch ihre Ämter mindestens ein Jahr ausgeübt hatten und nicht abgetreten waren, entlassen werden. Drittens sollten Einkommen und Vermögen von Beamten unter die Lupe genommen werden, um die grassierende Korruption aufzudecken. Viertens sah ein spezielles „Gesetz zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Justiz" vor, alle Richter zu entlassen, die Urteile gegen Teilnehmer der Euromajdan-Proteste gefällt hatten.

Die vorgeschriebenen Überprüfungen sollten dezentral durchgeführt werden. Die Ergebnisse waren an das Justizministerium zu übermitteln, das ein Verzeichnis aller lustrierten Beamten führte. Ein zwölfköpfiger Rat für Lustrationsfragen sollte die ordnungsgemäße Durchführung der Überprüfungen kontrollieren. Dies war auch nötig, weil die betroffenen Institutionen das Verfahren der Autorin zufolge fast ausnahmslos sabotierten. Gegner des Gesetzes wandten sich zudem an das Verfassungsgericht, das selbst von der Lustration betroffen und deshalb befangen war. Auch die Venedig-Kommission des Europarates befasste sich mit dem Gesetz und verlangte in einer ersten Stellungnahme den Nachweis einer persönlichen Schuld der Lustrierten.

Trotz dieser Hindernisse wurden in der Ukraine innerhalb von zwei Jahren 300.000 Amtsträger überprüft. Von 5000 Beamten, die unter Janukowitsch hohe Ämter bekleidet hatten, wurden 936 entlassen. Tausende räumten ihren Posten zudem von sich aus. Nur in fünf Prozent der Fälle erfolgte eine Entlassung aufgrund der Tätigkeit in der kommunistischen Diktatur. Bei 15 Prozent war die Vermögensüberprüfung ausschlaggebend. Die restlichen 80 Prozent waren ehemalige Janukowitsch-Funktionäre. Beim Geheimdienst SBU kam es nur zu 58 Entlassungen, doch 3300 Mitarbeiter gingen von sich aus.

Die größten Schwierigkeiten gab es bei den Richtern. So sollten zwar 29 von ihnen entlassen werden, doch die meisten klagten dagegen erfolgreich beim Obersten Verwaltungsgericht. Im September 2016 trat deshalb ein weiteres „Gesetz über das Gerichtswesen und den Status der Richter“ in Kraft. Es verlangte, dass alle Richter von einer unabhängigen Expertengruppe ausgewählt werden und ihre Vermögensverhältnisse offenlegen müssen. Nach diesem Gesetz quittierten über 1000 Richter von sich aus den Dienst.

Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass in der Ukraine tatsächlich die meisten belasteten Kader aus Führungspositionen entlassen wurden oder von sich aus ausgeschieden sind. Insoweit sei die Lustration erfolgreich gewesen. Der Kampf gegen die Korruption im Staatsapparat sei hingegen gescheitert.

Zum vollständigen Text von Evgenija Lezina geht es hier.

Links

Die Kriminalitätsforscherin Yuliya Zabyelina über die Besonderheiten der Lustration in der Ukraine (englisch)

Masterarbeit von Galyna Saltan über die Misserfolge der Lustration in der Ukraine (englisch)

Gesetz zur Säuberung des Regierungsapparates (ukrainisch)

 

Nach der Diktatur. Instrumente der Aufarbeitung autoritärer Systeme im internationalen Vergleich

Ein Projekt am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg

Twitter: @afterdictatorship
Instagram: After the dictatorship

Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Von Lenin zu Lennon

Am 21. Februar 2014 wurde der sowjetische Diktator Wladimir Iljitsch Lenin gestürzt nicht in Wirklichkeit, sondern sein Abbild, das sich bis dahin im Erholungspark der Industriestadt Chmelnyzkyj erhob. In mehreren Wellen wurden in der Ukraine seit der Unabhängigkeit die mehr als 5000 Lenin-Denkmäler beseitigt. Ein Gesetz verlangte 2015 nicht nur die Entfernung der kommunistischen Symbole, sondern auch die Umbenennung der sowjetischen Straßennamen. Der Politologe Maksym Y Kovalov hat diesen Prozess der Dekommunisierung untersucht.

Wenn man über die Lennon-Straße in Kalyny flaniert, so beginnt der Autor seine Analyse, könnte man sich fragen, warum John Lennon und die Beatles ausgerechnet hier so prominent geehrt werden. Der Grund dafür liege allein in einer Namensähnlichkeit mit dem Gründer der UdSSR, nach dem, wie überall in der Sowjetunion, die zentrale Straße der Stadt benannt worden war. Aus Lenin wurde Lennon - was phonetisch für die Bewohner nur einen geringen Unterschied machte.

Nach der Unabhängigkeit der Ukraine habe es auf nationaler Ebene zunächst keine Dekommunisierung gegeben. Nur ein Gesetz zur Rehabilitierung der Opfer des Stalinismus und des Gulag sei 1991 verabschiedet worden. Erst nach der "Orangenen Revolution" seien mehrere erinnerungspolitische Maßnahmen wie die Schaffung des Ukrainischen Instituts für Nationale Erinnerung ergriffen worden. Doch in den späten 2000er-Jahren hätten die meisten Hauptstraßen der Ukraine immer noch die Begriffe "Lenin", "Sowjet" oder "Oktober" in ihrem Namen geführt.

Im April 2015 verabschiedete das ukrainische Parlament die Rada dann gleich vier Dekommunisierungsgesetze. Das erste Gesetz würdigte die Organisationen, die für eine unabhängige Ukraine gekämpft hätten, in der Sowjetunion aber als Nazi-Kollaborateure dämonisiert worden seien. Das zweite Gesetz öffnete die Archive der kommunistischen Zeit für die Öffentlichkeit. Das dritte Gesetz verwarf das sowjetische Geschichtsverständnis, den Zweiten Weltkrieg erst im Jahr 1941 beginnen und damit die zweijährige Kooperation zwischen Hitler und Stalin unter den Tisch fallen zu lassen. Das vierte Gesetz verbot die Verwendung sowjetischer und nationalsozialistischer Symbole im öffentlichen Raum. Zugleich schrieb es die Umbenennung von Städten, Regierungsbezirken (Oblast), Straßen und Plätzen vor sowie den Abriss von Denkmälern, Gedenktafeln und anderen Symbolen der kommunistischen Zeit.

Für die Straßenumbenennungen hatten die örtlichen Selbstverwaltungsorgane sechs Monate Zeit. Wenn sie der Aufgabe nicht nachkamen, sollten die Bürgermeister die Umbenennungen anordnen, wofür diese weitere drei Monate eingeräumt bekamen. Wenn auch sie untätig blieben, mussten die Leiter der Gebietsadministration bis zum 21. Mai 2016 neue Namen vorschreiben. In den meisten Regionen wurden vor diesem Hintergrund Kommissionen aus Historikern und lokalen Spezialisten gebildet. Sie erstellten Listen mit den Straßennamen aus der Sowjetzeit, diskutierten sie mit den Anwohnern und machten den Stadträten Vorschläge zur Umbenennung. Das Institut für Nationales Gedächtnis stellte dafür Richtlinien und eine Liste mit über 500 Personen zur Verfügung, die nicht mehr geehrt werden sollen.

In seiner Studie untersucht der Autor, welche Gemeinden diese Art der Dekommunisierung unterstützt haben und welche nicht. Er macht dies daran fest, ob die Stadträte die Frist zur Umbenennung einhielten oder ungenutzt verstreichen ließen. Seine Schlussfolgerung lautet, dass entgegen der gängigen Annahme nicht die historische Ost-West-Spaltung des Landes ausschlaggebend gewesen sei, sondern die "Politik der Gegenwart": Ob die Straßen rechtzeitig umbenannt wurden, sei nicht von der Region, sondern von den Aktivitäten der Umbenennungskommissionen und der Anzahl ihrer lokalen politischen Gegenspieler abhängig gewesen. "Die passive oder konfrontative Arbeit toponymischer Kommissionen, kombiniert mit einer höheren Anzahl subnationaler Vetospieler, erklärt im Allgemeinen den Widerstand gegen die Umbenennung von Straßen," so der Autor. Bei starkem "Provisionsaufwand" sei der Umbenennungsprozess hingegen reibungslos verlaufen.

Als Beispiel nennt er die Stadt Winnyzja, wo die Kommission und zivilgesellschaftliche Gruppen eine lebendige Informationskampagne durchgeführt hätten. Unter dem Titel "Straßenduell" hätte etwa eine Serie von 65 Plakaten die Namen alter und neuer Straßen gegenübergestellt. Ein anderes Projekt habe 44 Soundtracks für den öffentlichen Nahverkehr produziert, die an den Haltestellen die neuen Namen ankündigten und dabei deren Bedeutung erklärten. Die Kampagne sei darüber hinaus von entsprechenden Schildern an den Haltestellen begleitet worden. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass "politische und nicht strukturelle Faktoren" für den Verlauf der Dekommunisierung entscheidend gewesen seien. 

Im letzten Abschnitt kommt der Autor auch auf die Gegenwart zu sprechen. Der russische Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 habe eine neue Welle von Straßenumbenennungen und Denkmalsstürzen ausgelöst. So hätten die Behörden in Kiew im April 2022 ein Denkmal entfernt, das die Freundschaft zwischen Russland und der Ukraine symbolisierte. 467 weitere Straßennamen sollten umbenannt werden, darunter auch solche, die an russische Dichter, Schriftsteller und Musiker erinnerten. Die Dekommunisierung habe sich dadurch praktisch zu einer Derussifizierung gewandelt.

Den vollständigen Aufsatz finden Sie hier (beschränkter Zugang).

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