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Analysen zu Georgien

Stalin und seine Opfer ein Propagandaplakat leuchtet im Museum der sowjetischen Besatzung neben den Fotos von Hingerichteten. Wie viele Menschen während der kommunistischen Diktatur in Georgien erschossen oder deportiert wurden, ist bis heute nicht bekannt. Doch nicht nur die Vergangenheit, auch der Umgang mit ihr ist nur wenig erforscht.

Credit: Hubertus Knabe

Die Praxis der Entschädigungen

Die Szenerie erinnert an die Sowjetunion: Während im Obergeschoss des Stalin-Museums in Gori der "Vater der Völker" gefeiert wird, befindet sich unter der Treppe eine nachgebaute Gefängniszelle. Seit 2010 erinnert das Museum auf diese Weise an die Opfer der kommunistischen Diktatur in Georgien. Obwohl sie einen gesetzlichen Anspruch auf Unterstützung haben, erhalten sie in der Praxis nur wenig Hilfe. Eine Studie des Instituts für die Entwicklung der Informationsfreiheit (IDFI) analysiert ihre Lage.

Langezeit gab es für die Opfer der stalinistischen Verfolgungen in Georgien überhaupt keine Entschädigungen. Ein Dekret des Staatsrates aus dem Jahr 1992 schrieb lediglich vor, alle Personen, die zwischen 1921 und 1924 wegen ihres Kampfes für nationale Unabhängigkeit unterdrückt worden waren, „als rehabilitiert zu betrachten“. Rechtlich wurden sie Teilnehmern des Zweiten Weltkriegs gleichgestellt. 

Erst 1997 trat das „Gesetz über die Anerkennung georgischer Staatsbürger als Opfer politischer Repressionen und über Maßnahmen zu ihrem sozialen Schutz“ in Kraft. Seitdem können politisch Verfolgte beim für den Wohnort zuständigen Gericht einen Antrag auf Rehabilitierung stellen. Wird diesem stattgegeben, haben sie Anspruch auf eine Kapitalentschädigung von 1.000 bis 2.000 Georgische Lari (2022 umgerechnet 350 bis 700 Euro). Ehemaligen Häftlingen, Deportierten und Angehörigen von Getöteten stehen außerdem Sozialhilfe und Rente zu. Laut der Ursprungsfassung des Gesetzes sollte sich der Staat auch an ihren Kosten für Miete, Heizung, Wasser, Strom, Telefon und Müllabfuhr beteiligen.

Wie diese Bestimmungen umgesetzt wurden, hat 2020 das private Institut für die Entwicklung der Informationsfreiheit (IDFI) in Tiflis untersucht. Der Studie zufolge seien bis 2018 16.468 Personen als Opfer anerkannt und entschädigt worden; in 588 Fällen sei der Antrag abgelehnt worden. Wie hoch die Entschädigungen jeweils ausfielen, habe das zuständige Nationale Büro für die Durchsetzung von Rechtsvorschriften nicht mitteilen wollen. Ebenso unbeantwortet sei die Frage geblieben, was mit Anträgen geschehen sei, die nach dem Ende der Einreichungsfrist (31. Dezember 2017) beim Gericht eingegangen seien. „Auf der Grundlage des Gesetzes wird unterdrückten Personen derzeit die Möglichkeit genommen, sich an ein Gericht zu wenden, um ihre Rechte wiederherzustellen“, kritisiert das IDFI.

Die Studie moniert auch, dass die Zuschüsse zu den Wohnnebenkosten 2006 abgeschafft worden seien. Damals trat ein neues Sozialhilfegesetz in Kraft, das die Beihilfen durch ein pauschales Haushaltsgeld in Höhe von sieben Lari (ca. 2,50 Euro) pro Monat ersetzte. Personen, die eine Rente bekommen, gehen dabei gänzlich leer aus. Anders als im Gesetz angekündigt, sei bislang auch kein Rechtsakt über die Wiederherstellung verletzter Eigentumsrechte in Kraft getreten. Dies sei deshalb so problematisch, weil Verurteilte zu Sowjetzeiten in der Regel auch ihr Eigentum verloren.

Dem Institut zufolge reichten die gewährten Leistungen nicht aus, dass die Opfer politischer Repressionen und ihre Nachfahren ihre täglichen Bedürfnisse befriedigen könnten. Sie stünden auch in keinem Verhältnis zum erlittenen Schaden. Demgegenüber erhalte die Georgische Orthodoxe Kirche jährlich Dutzende Millionen Lari für Verluste, die sie zwischen 1921 und 1990 erlitten habe.

Am Ende gibt die Studie Empfehlungen ab, wie die Entschädigung der Opfer verbessert werden könne. Dazu gehört zum Beispiel die kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Da viele Hilfen für die Opfer nur in schwer zugänglichen Regierungsverordnungen festgeschrieben seien, fordert das Institut zudem ein eigenes Untergesetz über die konkreten Entschädigungsregelungen.

Zur vollständigen Studie geht es hier (englisch).

Links

Gesetz über die Anerkennung georgischer Bürger als Opfer politischer Repressionen (englisch)

Dekret über die Wiederherstellung der Gerechtigkeit für Unabhängigkeitskämpfer 1921-1924 (russisch-deutsch)

 

Nach der Diktatur. Instrumente der Aufarbeitung autoritärer Systeme im internationalen Vergleich

Ein Projekt am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg

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Instagram: After the dictatorship

Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Wenn das Unrecht zurückkehrt

Ein Wachmann patrouilliert auf dem Beobachtungsturm des Gefängnisses Nr. 8 in Tiflis. Die Haftanstalt im Stadtteil Gldani machte international Schlagzeilen, als 2012 kurz vor den Parlamentswahlen Videos veröffentlicht wurden, auf denen die Folterung von Gefangenen zu sehen war. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei nicht um Einzelfälle. In einem ausführlichen Bericht machte das Internationale Zentrum für Übergangsjustiz Vorschläge, wie das neue Unrecht aufgearbeitet werden könnte.

US-Senatorin Hillary Clinton hatte ihn 2005 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, heute sitzt er im Gefängnis – kein anderer georgischer Politiker blick auf eine ähnlich wechselvolle Karriere zurück wie der frühere Präsident Micheil Saakaschwili. 2003 gehörte er zu den Wortführern der Rosenrevolution, die zum Rücktritt von Präsident Eduard Schewardnadse führte. Bei den anschließenden Präsidentschaftswahlen erhielt Saakaschwili, der Georgien in die NATO und in die Europäische Union führen wollte, 96 Prozent der Stimmen. Im Westen fand er prominente Unterstützer, weil er energisch gegen die weit verbreitete Korruption vorging.

Bald zeigte sich allerdings, dass sich seine Maßnahmen auch gegen die Vertreter der Opposition richteten. 2007 kam es zu Massenprotesten, in deren Folge Saakaschwili zurücktrat, anschließend aber wiedergewählt wurde. Sein erfolgloser Versuch, im Sommer 2008 militärisch gegen die Separatisten in Südossetien vorzugehen, kostete ihn allerdings weitere Sympathien. 2012 verlor seine Partei Vereinte Nationale Bewegung dann die Parlamentswahlen, nach dem ein ehemaliger Wärter Videos von Folterszenen aus dem Gefängnis Nr. 8 in Tiflis veröffentlicht hatte. Saakaschwili ging ins Ausland, wurde in Abwesenheit verurteilt und bei seiner Rückkehr 2021 in Haft genommen. Ein Gericht hatte ihn unter anderem für schuldig befunden, dass er einen oppositionellen Politiker zusammenschlagen ließ.

Dass unter Saakaschwili in den georgischen Haftanstalten systematisch gefoltert wurde, ist inzwischen auch durch andere Zeugen belegt. Mehrere Dutzend Gefängnismitarbeiter und ihre Vorgesetzten wurden deshalb vor Gericht gestellt. Der ehemalige Gefängnis- und Verteidigungsminister Bacho Akhaliaia sowie der frühere Innenminister und Premierminister Vano Merabishvili erhielten lange Haftstrafen. Die Anhänger Saakaschwilis erhoben den Vorwurf, die Prozesse seien politisch motiviert.

Das Internationale Zentrum für Übergangsjustiz (ICTJ) in New York machte sich 2016 ein Bild von der Lage in Georgien. In einem ausführlichen Bericht kam das Zentrum zu dem Schluss, dass Saakaschwilis „Null-Toleranz“-Politik zur Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität zu umfangreichen Menschenrechtsverletzungen geführt habe. Diese umfassten "vor allem Folter und Misshandlungen in der Haft, willkürliche Verhaftungen und die Verweigerung des Rechtsschutzes sowie die Beschlagnahmung von Eigentum.“ Die eingeleiteten Maßnahmen zur Wiedergutmachung wie Amnestien, Rehabilitierungen und Strafverfahren gegen ehemalige hohe Beamte hätten sich als unwirksam erwiesen.

In seinem Bericht macht das Zentrum deshalb Vorschläge, wie die Situation verbessert werden könnte: durch Schaffung einer Dokumentationsstelle zu Menschenrechtsverletzungen, Einrichtung einer Wahrheitskommission, Einsetzung einer unabhängigen Kommission zur Untersuchung mutmaßlicher Justizirrtümer, Errichtung einer qualifizierten und politisch unbeeinflussten Ermittlungsbehörde, institutionelle Reformen auf Basis der Empfehlungen der Wahrheitskommission, Bildung einer unabhängigen Agentur für die Opfer und ein Programm zur Wiedergutmachung. Umgesetzt wurden die Vorschläge nicht.

Zum Bericht des ICTJ geht es hier (englisch).

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