Besucher des Historisch-Technischen Museums Peenemünde studieren Dokumente. In der Zeit des Nationalsozialismus befand sich hier das größte militärische Forschungszentrum Europas. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind unzählige wissenschaftliche Analysen über die zwölfjährige Herrschaft der Nationalsozialisten erschienen – weit mehr als zu jeder anderen historischen Epoche. Aber auch die DDR wurde intensiv erforscht. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist inzwischen selber ein Gegenstand historischer Forschung geworden.
Credit: Hubertus Knabe
75 000 "Stolpersteine" hat der Künstler Gunter Demnig seit 1992 in Deutschland und anderen europäischen Ländern verlegt – das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Die messingüberzogenen Steine erinnern an Opfer des Nationalsozialismus und werden von ihm gegen ein Entgelt vor den ehemaligen Wohnhäusern der Betroffenen in den Boden eingelassen. In 1265 deutschen Kommunen sind sie inzwischen zu finden. Während die Erinnerung an den Nationalsozialismus in Deutschland zu einem zentralen Anliegen des Staates wurde, wachsen unter Historikern inzwischen die Zweifel, ob sie wirklich vor Wiederholungsversuchen schützt.
In einem Aufsatz vom Januar 2020 stellt der Historiker Martin Sabrow den Sinn der Aufarbeitung insgesamt in Frage. Seine These: „Das Bewusstsein, aus der Vergangenheit gelernt zu haben, hat die absurde Annahme, dass Geschichte Lehren bereithalte, die man beherzigen müsse, um vor Wiederholung gefeit zu sein, zu einem quasireligiösen Glaubensartikel gemacht, der parteiübergreifend der Politik unserer Zeit ihre wertbezogene Letztbegründung verleiht.“ Sabrow begründet seine Auffassung vor allem mit dem Aufstieg der Partei Alternative für Deutschland (AfD). Er kritisiert aber auch die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, die „in einer Parallelwelt“ stattfinde.
Sabrow ist Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), einer Nachfolgeinstitutionen der Akademie der Wissenschaften der DDR. Er war Vorsitzender einer nach ihm benannten Kommission zur Schaffung eines Geschichtsverbunds „Aufarbeitung der SED-Diktatur“, die die rot-grüne Bundesregierung 2005 eingesetzt hatte. Bei Experten stießen deren Vorschläge seinerzeit auf heftige Kritik. Vom christdemokratischen Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann, wurden sie 2006 zurückgewiesen.
Zum Aufsatz von Martin Sabrow geht es hier.
Website der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin
Website des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam
Kritik des Instituts für Zeitgeschichte an den Empfehlungen der Sabrow-Kommission
Kritik des Historikers Hubertus Knabe an den Empfehlungen der Sabrow-Kommission
Nach der Diktatur. Instrumente der Aufarbeitung autoritärer Systeme im internationalen Vergleich
Ein Projekt am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg
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Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Das Ende der DDR kam für die meisten überraschend. Noch am 7. Oktober 1989 nahm das Politbüro der SED in Ost-Berlin eine pompöse Parade zum 40. Jahrestag ab. Nur zehn Tage später wurde SED-Generalsekretär Erich Honecker zum Rücktritt gezwungen. Ein Jahr darauf, am 3. Oktober 1990, trat die DDR der Bundesrepublik bei. Der Untergang der sozialistischen Diktatur bescherte Deutschland eine „zweite“ Vergangenheit, über deren Bewältigung es zu heftigen Kontroversen kam.
Die Notwendigkeit, den Prozess der Aufarbeitung auf den Kommunismus auszuweiten, stieß vor allem im linken politischen Lager auf Abwehr. Auch die bis dahin vorherrschende DDR-Forschung hatte den SED-Staat als legitime alternative Ordnung betrachtet. 1992 wurde deshalb an der Freien Universität Berlin der Forschungsverbund SED-Staat gegründet, der die DDR ebenso wie das Dritte Reich als totalitäre Herrschaftsform begriff. Für Diskussionen sorgte nicht nur die Frage, ob und inwieweit Nationalsozialismus und Realsozialismus vergleichbar seien. Auch der praktische Umgang mit Orten der Verfolgung, die von beiden Regimen genutzt worden waren, führte zu heftigen Kontroversen. Nicht nur in den ehemaligen Konzentrationslagern Buchenwald und Sachsenhausen standen Gedenkstättenleiter vor der Aufgabe, am selben Ort zwei Diktaturen gleichzeitig darstellen zu müssen.
Zu einer Art Minimalkonsens avancierte die Formel des westdeutschen Historikers Bernd Faulenbach, die dieser 1991 bei den Beratungen über die Neukonzeption der Gedenkstätten im Land Brandenburg eingebracht hatte: „Die NS-Verbrechen dürfen nicht mit Hinweis auf das Nachkriegsunrecht relativiert, dieses Unrecht darf aber auch nicht angesichts der NS-Verbrechen bagatellisiert werden.“ Der Grundsatz wurde später auch von der Enquete-Kommission des Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur aufgegriffen. Er konnte allerdings nicht verhindern, dass die Debatte um den Umgang mit Deutschlands „doppelter“ Vergangenheit auch später immer wieder aufbrach.
In einem Aufsatz über „‚Vergangenheitsbewältigung‘ nach totalitärer Herrschaft in Deutschland“ plädierte der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse 1994 für einen übergreifenden Ansatz. Er prognostizierte eine Aufwertung des Totalitarismusbegriffs, trat für eine nachhaltige Delegitimierung des früheren Herrschaftsapparats ein und bescheinigte den Deutschen, dass ihr Umgang mit der Vergangenheit bei allen Schwierigkeiten besser sei als ihr Ruf.
Zu Jesses Text geht es hier (Registrierung erforderlich)
Keine andere Rede eines deutschen Bundespräsidenten wird so oft zitiert wie die, die Richard von Weizsäcker im Mai 1985 bei einer Gedenkstunde im Deutschen Bundestag hielt. Ihr Kernsatz lautete: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Dass gerade er damit eine Zäsur in der deutschen Erinnerungskultur einleitete, erscheint im Nachhinein paradox. Denn Ende der 1940er Jahre hatte er geholfen, seinen Vater zu verteidigen, der in einem Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde.
Drei Tage nach einem Deutschland-Besuch des US-Präsidenten Ronald Reagan versammelte sich der Bundestag am 8. Mai 1985 zu einer Gedenkstunde, um an den 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation zu erinnern. Eine Kranzniederlegung Reagans mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl auf einem Soldatenfriedhof in Bitburg hatte zuvor für öffentliche Diskussionen gesorgt. Denn dort waren, wie sich kurz vor dem Besuch herausstellte, auch Angehörige der Waffen-SS begraben. Von Weizsäckers Rede wurde deshalb auch als eine „Antwort auf Bitburg“ interpretiert. Allerdings hatte auch Kohl zuvor bereits von einem „Tag der Befreiung“ gesprochen.
Während von Weizsäckers Rede vor allem in seiner eigenen Partei, der CDU, auf Kritik stieß und Historiker darin eine unhistorische Umdeutung der deutschen Kapitulation in eine Befreiung sahen, avancierte sein Credo bald zu einer Art Staatsräson der Bundesrepublik. Bereits zehn Jahre später lud der damalige Bundespräsident Roman Herzog zu einem Staatsakt nach Berlin, um den 8. Mai gemeinsam mit den Siegermächten zu feiern. Auch zum 60., 70. und 75. Jahrestag hielten die Bundespräsidenten Ansprachen mit ähnlichem Tenor wie von Weizsäcker. Politiker der Grünen, SPD, Linken und FDP sprachen sich 2020 dafür aus, den 8. Mai als „Tag der Befreiung" zum gesetzlichen Feiertag zu erklären.
Zur Rede von Weizsäckers geht es hier.
Eine deutsche Frau wird im April 1945 von US-Soldaten zu den Leichen von Häftlingen aus dem Konzentrationslager Buchenwald geführt. Der Schrecken über die Barbarei der Nationalsozialisten steht ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Doch wie nachhaltig war diese Form der „Umerziehung“ – wie die westlichen Alliierten ihr politisches Bildungsprogramm für Deutschland nannten? In einem Aufsatz warf der marxistisch inspirierte Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno den Deutschen 1959 vor, einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit ziehen zu wollen.
Der Text mit dem schlichten Titel „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ leitete eine Wende im Umgang mit dem Nationalsozialismus ein. Die Vorstellung, die Vergangenheit abschließend bewältigen zu können, wurde nach dem Erscheinen zunehmend durch den Begriff einer Aufarbeitung ersetzt, die kein Ende kennt. Eine wichtige Rolle bei der Umsetzung dieses Konzeptes spielte das Institut für Zeitgeschichte in München. Es war bereits 1949 gegründet worden war und eröffnete nach dem Ende der DDR auch eine Abteilung in Berlin.
Zu Adornos Text geht es hier.